Zwei Ziehmütter für 31 Zugvögel
Heute ist Anne Schmalstiegs 28. Geburtstag. Um kurz vor sieben zieht sie sich nach einer kalten Sommernacht auf einer Wiese im Tiroler Oberinntal einen gelben Pullover an. Sie putzt ihre Zähne, dann bereitet sie Boxen mit Mehlwürmern vor.
Von April bis September verbringt sie zehn Stunden täglich mit einer Gruppe Waldrappe. Und das seit vier Jahren. 2013 hat sie das letzte Mal ohne Vögel ihren Geburtstag gefeiert.
Statt das neue Lebensjahr mit Freunden und Familie zu begehen, wird sie gleich mit ihrer Kollegin Corinna Esterer den 31 Jungvögeln GPS-Logger zur Aufzeichnung von Flugdaten anheften. Es ist feucht. Missmutig sitzen die Vögel auf ihrer Stange. Der Waldrapp entwickelt seine Schönheit eher auf den zweiten Blick. Und auch nur bei gutem Wetter. Dann schillert das dunkle Gefieder des Vogels mit dem krummen Schnabel und den kurzen Beinen in den Farben des Regenbogens.
Zwei Stunden später steckt Anne Schmalstieg in einer Fliegerkombi, hängt sich ein Megafon um und besteigt den Rücksitz eines Ultraleichtflugzeugs, um damit Richtung Süden zu fliegen. Esterer fliegt bei Projektleiter Johannes Fritz mit.
Die beiden jungen Frauen gehören zum "Waldrappteam": 16 Menschen, die mit den Tieren in Campingbussen durch die Alpen touren. Ziel ist es, sie auszuwildern. Dazu versucht das Team, den Jungvögeln den Zug vom nördlichen Alpenvorland in ein Reservat in der Toskana beizubringen.
Im Jahr 2011 schaffte das Waldrappweibchen Goja als Erste die selbstständige Rückkehr. Die Hoffnung auf einen erwachsenen Vogel, der eine neue Generation Waldrappe über die Alpen geführte hätte, währte aber nur kurz. Ein Jahr später fiel Goja einem italienischen Jäger zum Opfer. Er entschuldigte sich damit, das langschnabelige Tier mit einer kurzschnabeligen Ringeltaube verwechselt zu haben.
Aufgeben kam trotzdem nie infrage. Die Wiederansiedelung des seltsamen Vogels ist für den Biologen Johannes Fritz Erfüllung und Mission. Manchmal wundert es ihn selbst, dass ihn seine Arbeit nach all den Jahren noch begeistert und zutiefst befriedigt. Seine Familie zieht mit. Ehefrau Angelika zog selbst fünf Jahre lang Waldrappe auf und begleitet als Projektassistentin mit ihren Söhnen die Reise der Vögel. "Für meine Kinder ist es ein Jahreshighlight. Eine Wiederansiedelung würde auch kaum Sinn ergeben, wenn wir die nächsten Generationen nicht begeistern können."
Das Projekt erhält Unterstützung durch die Europäische Union. Sie deckt die Hälfte der laufenden Kosten in Höhe von 4,3 Millionen Euro für einen Zeitraum von vier Jahren. Die andere Hälfte stammt aus Spenden von Stiftungen und Privatpersonen. Auch Zoos beteiligen sich, sowohl finanziell als auch mit Sachmitteln und Personal.
In Europa verschwand der Waldrapp, ein Schopfibis, vor 400 Jahren. Vermutlich wurde ihm sein leckeres Fleisch zum Verhängnis. Andernorts erging es dem Vogel deutlich besser. Im Osmanischen Reich wurde der "Kelaynak" verehrt. Türkische Schulbücher berichten auch heute noch, dass es der Waldrapp war, der Noahs Arche mit einem Ölzweig versorgte. Ein Schweizer Ornithologe hielt 1902 fest, dass Waldrappe noch in Nordafrika, Arabien und Kleinasien vorkämen, wo sie "von den fanatischen Muhmedanern eifrig geschützt" würden.
Inzwischen sind die Tiere auch dort akut bedroht. Insektizide, Stromleitungen und Bejagung forderten in den vergangenen hundert Jahren einen hohen Preis. Die ohnehin schon stark dezimierte Kolonie im syrischen Palmyra gilt seit einigen Jahren als erloschen, die Vögel im türkischen Birecek wurden zu ihrem eigenen Schutz eingesperrt. Lediglich in Marokko leben noch die letzten 500 wilden Waldrappe.
Nordafrikanische Vorfahren haben auch die etwa 2000 Waldrappe, die in Zoos gehalten werden und sich dort problemlos züchten lassen. Die Jungvögel aus der Gefangenschaft könnten helfen, eine stabile Population in Mitteleuropa aufzubauen. Doch das Auswildern von Tieren, die in Gefangenschaft aufgewachsen sind, ist schwierig, das gilt auch für den Waldrapp. Soll das Tier nördlich der Alpen überleben, muss es lernen, sie zu umfliegen. Und hier beginnt der Job des Teams von Johannes Fritz.
Die Wissenschaftler übernehmen die Küken bereits wenige Tage nach dem Schlüpfen, ziehen sie von Hand auf. Mit ungefähr vier Monaten werden junge Waldrappe unruhig, bekommen den Drang, das Brutgebiet zu verlassen. "Zugunruhe" nennen Forscher dieses Verhalten. An sich eine hilfreiche Anlage, denn im Winter finden die Tiere, die sich von kleinen Insekten und Würmern ernähren, nördlich der Alpen nicht genug Nahrung. Es gibt nur ein Problem.
Während der Wille genetisch vererbt wird, muss der Weg sozial erlernt werden. Ihre Eltern können den Waldrappen in diesem Fall nicht helfen, sie leben in europäischen Zoos. Und ohne Anleitung erfahrener Altvögel haben die Jungtiere die Tendenz, sich hoffnungslos zu verirren. So wurden österreichische Waldrappe auf der Suche nach einem Überwinterungsquartier im 1700 Kilometer nördlich liegenden St. Petersburg aufgegriffen.
Deshalb prägen die Wissenschaftler Jungvögel auf Ziehmütter wie Anne Schmalstieg und Corinna Esterer - ähnlich, wie einst Konrad Lorenz zum Vater der Graugänse wurde. Sie fahren die Tiere an den Ort, der später einmal ihr Brutgebiet werden soll, und ziehen sie dort auf. In diesem Jahr ist es das badische Hödingen am Bodensee. Hier gibt es die vom Waldrapp für den Nestbau bevorzugten Steilfelsen.
Seit 15 Jahren erprobt Johannes Fritz die Möglichkeiten, unter denen die Vögel ihren Zieheltern durch die Alpen folgen. Waldrappe migrieren in kurzen Etappen, zwischen denen sie zwei bis drei Tage pausieren, um sich auszuruhen. Das Projekt ist daran angepasst. Das Lernfenster der Waldrappe ist kurz, darum muss die Route im ersten Lebensjahr geflogen werden, um sich dauerhaft einzuprägen. Danach sinken die Erfolgschancen, und auch die Bindung zwischen Mensch und Tier lässt nach. Nach drei Jahren, wenn die Vögel ausgewachsen sind, kehren sie selbstständig in ihr Brutgebiet im Norden zurück.
Als Ziehmütter arbeiten Schmalstieg und Esterer daran, eine starke Bindung zu den Vögeln aufzubauen. Die Farbe Gelb ist den beiden vorbehalten. So soll sichergestellt werden, dass die Tiere nur auf sie als Bezugspersonen geprägt bleiben und keine allgemeine Gewöhnung an den Menschen stattfindet. Der "Waldrapp-Gruß" - die Imitation des nickenden Kopfes mit geballter Faust und abstehendem Zeigefinger - ist für den Rest des Teams ebenfalls tabu.
Schmalstieg fliegt gern. Per Megafon rufen die Ziehmütter nach den Vögeln, die Waldrappe kreisen noch zwei Runden über das Camp, um dann zu folgen. Das ist für Schmalstieg einer der schönsten Momente ihrer Arbeit. Zu sehen, dass die Tiere ihr so sehr vertrauen, dass sie sogar hinter einem großen, lauten Fluggerät hergleiten. Unterwegs bleiben die Waldrappe nah bei ihren Müttern. Sie suchen Blickkontakt, grüßen mit wippendem Kopf. Die Ziehmütter erwidern den Gruß und zählen die Vögel, damit keiner unbemerkt verloren geht.
Für den Erfolg des Unternehmens ist das Wetter von entscheidender Bedeutung. An diesem Tag liegt eine hohe Wolkendecke über den Bergen. Das ist für die Reise über die Alpen ein Problem. Gebraucht werden Aufwinde, die durch die Erwärmung bodennaher Luftschichten entstehen und die Waldrappe emportragen. Nur so können die Vögel den vor ihnen liegenden Reschenpass überqueren. Nach 40 Kilometern wird klar, dass die Thermik nicht ausreicht und der Flug abgebrochen werden muss. Es geht zurück ins Camp.
Schmalstieg ist dennoch zufrieden. Es lag bloß am Wetter, die Vögel haben gut mitgemacht. Das Team muss einen weiteren "Volierentag" im Oberinntal einlegen.
Für Esterer und Schmalstieg bedeutet das, einen weiteren Tag in dem 111 Quadratmeter großen Käfig der Waldrappe zu verbringen. Sie wechseln sich ab. Hier reden die beiden Wissenschaftlerinnen mit den Tieren, singen zuweilen etwas vor und lassen sich bestochern und beknabbern. Zehn Stunden am Tag dauert die Beziehungspflege. Körperkontakt ist dafür extrem wichtig. Neugierig sind die Tiere, erzählen die jungen Frauen. Neugierig und vielleicht ein bisschen naiv. Aber keinesfalls dumm.
Esterer raucht eine selbst gedrehte Zigarette. "Wir sind das Thema locker angegangen und bemuttern die Tiere nicht. Sie merken, ob man angespannt ist", sagt sie. "Sie merken, wenn wir schlechte Laune haben. Wenn wir uns über etwas ärgern, haben wir entschieden, uns nicht vor den Tieren zu streiten oder laut zu werden."
Schmalstieg nickt. Sie sind häufig einer Meinung, beenden Sätze füreinander oder antworten gleichzeitig mit identischem Wortlaut. Material und Kaffeebecher im Camp sind mit "Coranne" beschriftet, für Corinna und Anne. Ein Privatleben außerhalb von Voliere und Teamkollegen ist in diesem Job nur schwer möglich.
Vor vier Jahren waren die beiden jungen Frauen eines von mehreren Ziehelternteams. Die meisten Kollegen waren der Mischung aus Verantwortung, Stress und Entbehrungen nicht auf Dauer gewachsen. Die beiden blieben. Weil sie ihre Zuverlässigkeit bewiesen haben, sind Esterer und Schmalstieg für die Migration unentbehrlich. Fiele eine Ziehmutter aus, wenn die Tiere bereits auf sie geprägt sind, wäre das ganze Projekt gefährdet.
Waldrappe interagieren mit ihrem langen Schnabel. Es wird viel geputzt und gepikst. Davon sind auch ihre gelben Beschützerinnen nicht ausgenommen. "Wenn man einschläft, kann man das Pech haben, dass einer der Vögel sich für die Ohren interessiert und bis aufs Trommelfell stochert." Brillen, Dreadlocks und Festivalbändchen sind für die neugierigen Jungtiere ebenso spannend. Dazu machen sie drucksende und glucksende Geräusche, die ein wenig wie der letzte Laut einer ablaufenden Badewanne klingen. Esterer und Schmalstieg haben sich auf "chrp" geeinigt. Schmalstieg erzeugt das Geräusch irgendwo zwischen Rachen und Kehlkopf. Setzen sich zwei Tiere auf ihre Köpfe, lassen sie sie dort ihren Rang ausdiskutieren. Auch dies verläuft bei den Vögeln überaus friedfertig. Der Unterlegene springt vom Kopf, das andere Tier hat gewonnen.
Zum Geburtstag telefoniert Schmalstieg mit ihrer Familie. Sie liegt auf einer Isomatte, während es sich einige Vögel auf ihr bequem gemacht haben. Ihre Oma mag es, wenn sie im Hintergrund die Vögel hört. All dies geschieht unter den Augen interessierter Besucher, die unbarmherzig kommentieren. "Schön sind die ja nicht" - "Guck, sie benutzt ein Handy". Auch die Ziehmütter im Käfig werden zu Ausstellungsstücken. Schmalstieg nimmt es gelassen: "Manchmal komme ich mir vor wie in einer Sitcom mit Live-Publikum."
Doch die stetig wachsende Fangemeinde ist Basis des Erfolgs. Johannes Fritz vermutet, dass sein Projekt, dessen Untertitel "Reason for Hope" lautet, eine Alternative zu Negativschlagzeilen über Kriege und Katastrophen liefert. Die Waldrapp-Story ist eine, in der der Mensch aktiv handelt, um etwas wiedergutzumachen. Vielleicht sogar mit Happy End - das kommt an. Der Waldrapp profitiert vom Interesse, gleichzeitig schützt ihn Aufmerksamkeit vor der Wilderei, zumindest ist das die Hoffnung des Teams.
Die Vögel werden mit solarbetriebenen Sendern ausgestattet, die es jedermann ermöglichen, die Tiere mit einer kostenlosen App zu orten und ihre Reisen nachzuvollziehen.
Auch nach der Arbeit bleibt der Vogel Programm. Zum Geburtstag erhält Schmalstieg neue Tabletten gegen Flugübelkeit sowie eine Waldrapp-Knetfigur. Zum Ausklang singt das Team zum Klang der Ukulele das "Waldrapp-Lied", komponiert von einer Praktikantin.
Bei aller wissenschaftlichen Herangehensweise - Esterer ist Umweltingenieurin, Schmalstieg Landschaftsentwicklerin - verhalten die Ziehmütter sich wie Helikoptereltern: Sie achten darauf, dass sich niemand den Tieren zu sehr nähert. Nachts, wenn sie ein Geräusch an der Voliere hören, springen sie sofort auf und schauen nach. In früheren Aufzuchten hat man den Hormonspiegel der Waldrapp-Ziehmütter untersucht. Heute gilt als erwiesen, dass die Abläufe im menschlichen Körper während der intensiven Handaufzucht denen echter Eltern stark ähneln.
Das Wetter ist besser am folgenden Tag. Ein guter Tag wird es trotzdem nicht, denn plötzlich attackiert ein Steinadler die Vögel. Die Ultraleichtflugzeuge beeindrucken ihn wenig. Mit hoher Geschwindigkeit stürzt er in die Gruppe hinein. Die Waldrappe fliegen wild auseinander, schlagen Haken und entschwinden in alle Richtungen. Der Pilot nimmt Kurs auf den Adler, während Schmalstieg ihn mit dem Megafon beschimpft. "Verpiss dich! Weg von den Vögeln!" Das macht sie immer, wenn ein Steinadler auf die Gruppe trifft. Nach einer zweiten Attacke zieht sich der Adler erfolglos zurück. "Ein wunderschönes Tier, an sich wirklich beeindruckend, ihn so nah zu beobachten. Aber er sollte sich trotzdem von den Waldrappen fernhalten", sagt Schmalstieg später.
Coranne haben bisher insgesamt 94 Waldrappe großgezogen. 16 sind sicher tot, 16 weitere gelten als vermisst. 60 haben sie erfolgreich die Migration beigebracht.
Haben die Tiere die Reise in die Lagune von Orbetello geschafft, werden sie langsam vom menschlichen Kontakt entwöhnt. Die Ziehmütter legen die gelbe Kleidung ab und reduzieren nach und nach die Fütterungen. In zwei Jahren sind ihre Schützlinge dann bereit, den Rückweg anzutreten. Allein.
Die kostenlose App, mit der sich der Zug der Vögel und vieler anderer Wildtiere verfolgen lässt, heißt "Animal Tracker" und wurde von der Max-PlanckGesellschaft entwickelt.
Es ist gar nicht falsch, neugierig und ein bisschen naiv zu sein, findet Moritz Gerlach. Als Mensch oder als Waldrapp.