Moritz Elliesen

Journalist | Internationale Politik und Wirtschaft | Redakteur epd

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Afghanistan - Verzweifelte Hilferufe, keine Antworten

Der afghanische Menschenrechtler Abdul Ghafoor verließ im August mit dem ersten Evakuierungsflug der Bundeswehr Kabul. Nun hilft er von Kassel aus gefährdeten Afghaninnen und Afghanen, das Land zu verlassen.


Eigentlich hatte Abdul Ghafoor Pläne für die von ihm gegründete Menschenrechtsorganisation Amaso. Erst kurz vor der Machtübernahme der Taliban seien sie in Kabul in ein neues, größeres Gebäude gezogen, sagt er. „Wir waren glücklich, wollten einen Konferenzraum einrichten." Doch statt in seinem neuen Büro sitzt Ghafoor nun im Aufenthaltsraum einer Flüchtlingsunterkunft im Kasseler Stadtteil Niederzwehren. Als die Taliban in Kabul einrückten, musste er fliehen. Als einziger Afghane schaffte der 35-Jährige es an Bord der ersten Evakuierungsmaschine der Bundeswehr, die am 16. August spätabends Kabul verließ.


Dabei wollte Ghafoor bis zuletzt bleiben, nicht zurücklassen, was er mit aufgebaut hatte. Seine Organisation Amaso unterstützt abgeschobene und aus dem Ausland zurückgekehrte Afghanen. Sein Traum war eine von Afghaninnen und Afghanen getragene Zivilgesellschaft, unabhängig sowohl von lokalen Machthabern als auch von den westlichen Staaten. Doch schon im Juli, als die Taliban eine Provinz nach der anderen eroberten, habe ihn ein schlechtes Gefühl beschlichen. Dass die Taliban auch die Hauptstadt Kabul einnehmen, glaubte er dennoch bis zuletzt nicht - „zumindest nicht so schnell", sagt Ghafoor und klingt dabei so, als wundert er sich immer noch ein bisschen.


Ghafoor war im Büro, als die Kämpfer in die Hauptstadt vordrangen. Als Erstes habe er Unterlagen von Rückkehrern, die er beraten hatte, verbrannt, um sie vor den Taliban zu schützen. Manche Migranten etwa hätten sich im Ausland vom Islam abgewandt und seien deshalb in Gefahr, sagt er. Über Kontakte zu deutschen Hilfsorganisationen stand er zu dem Zeitpunkt auf einer Evakuierungsliste der Bundesregierung. Zwei Tage versteckte er sich zu Hause, dann machte er sich auf zum Flughafen.


Tausende Menschen hätten probiert, auf das Flughafengelände zu kommen, sagt Ghafoor. „Die Taliban haben ihre Gewehre und Messer auf uns gerichtet." Helikopter seien über seinem Kopf gekreist. Dann fielen Schüsse: „Die Taliban schossen in die Luft, um die Menge zu verstreuen, US-Soldaten schossen zurück, weil sie dachten, dass sie angegriffen werden."


Mindestens zwei Taliban-Kämpfer und mehrere Zivilisten seien getötet worden, erzählt Ghafoor, der ruhig über all das spricht. Er hatte Glück, kam an den Checkpoints vorbei und schaffte es in die Bundeswehrmaschine, die ihn nach Taschkent brachte. Mit ihm seien nur sechs andere Menschen an Bord gewesen. Von der usbekischen Hauptstadt ging es über Hamburg nach Kassel.


Dort lebt Ghafoor, der auch drinnen seinen grauen Mantel nicht auszieht, in einer etwas heruntergekommen ehemaligen Kaserne, die heute als Flüchtlingsunterkunft dient. Weil er als Ortskraft gilt, hat er eine Aufenthaltserlaubnis und bekommt Geld von den Behörden. Nachmittags, nach seinem Sprachkurs, versucht er aus seinem mit dem nötigsten ausgestatteten Einzelzimmer, gefährdete Afghaninnen und Afghanen außer Landes zu bringen, setzt sie auf Evakuierungslisten deutscher Ministerien und stellt Kontakt zu Anwälten her.


Ghafoor sagt, er fühle sich verantwortlich. Doch allen kann er nicht helfen. Jeden Tag erreichten ihn verzweifelte Mails und Nachrichten aus Afghanistan. „Die Menschen bitten um Hilfe, aber ich habe keine Antworten." Auch Berichte über die Gräueltaten der neuen Machthaber werden ihm manchmal zu viel. „Dann lege ich das Handy weg, klappe den Laptop zu und gehe raus, weg von allem", sagt er. Früher habe er Dutzende Telefonate pro Tag geführt, heute habe er manchmal schon nach vier Anrufen genug. Erst nach ein paar Wochen in Deutschland habe er realisiert, wie schlecht es ihm gehe. Seit kurzem gehe er in ein Fitnessstudio, um den Kopf freizukriegen.


Am meisten vermisst er das Viertel in Kabul, in dem sein Büro war. In den Cafés und Restaurants habe er sich nach der Arbeit oft mit Freunden und Bekannten getroffen, Konzerte und Lesungen besucht. Die Gegend sei ein Treffpunkt für junge Afghaninnen und Afghanen gewesen. Doch nun, berichteten ihm Freunde, sei das Viertel wie ausgestorben. Zwei Cafés seien noch offen, aber nur für Männer. Zurückkehren will er nicht, solange die Taliban das Sagen haben. „Manchmal", sagt Ghafoor, „bin ich wütend". Menschen hätten ihr Leben riskiert, weil sie Hoffnung auf ein demokratisches Afghanistan hatten. „Doch jetzt ist alles kaputt." (epd/mig)

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