Je mehr rote Ampeln Julia Richters Arbeitsweg zerstückelten, desto besser. Was immer sie zum Bremsen zwang, erinnert sie sich heute, erschien ihr wie ein Geschenk des Himmels. So konnte sie diesem Ort noch ein paar Momente fernbleiben, der ihr sonntags Bauchschmerzen bereitete und nachts den Schlaf raubte. Saß sie kurz darauf an ihrem Schreibtisch, genügten die Konturen ihres Chefs hinter der Scheibe, damit sich ihre Finger in die Tischplatte krallten. Gleich würde er vor ihr stehen und die immer gleiche Frage stellen: "Wie viele Scheine haben Sie gemacht?" Reichte ihm nicht, was ihre Kunden in der letzten Stunde investiert hatten, sei er nur kopfschüttelnd davongezogen.

So lief es an den guten Tagen, sagt Julia Richter, die hier anders heißen soll, weil sie nicht von früheren Vorgesetzten erkannt werden möchte. An den schlechten sei der Chef in Gelächter ausgebrochen oder habe ihre Misserfolge vor den Kollegen ausgewalzt. Erzählt Julia Richter heute per Videotelefonat davon, hört man selbst durch das Mikrofon ihres Computers, wie die Verzweiflung in ihre Stimme kriecht. Jene Monate waren nur ein Teilstück ihrer 30-jährigen Laufbahn. In den schlimmsten Episoden verlor sie bis zu acht Kilo Gewicht. Und ihren Lebensmut. "Ich wollte nicht mehr auf der Welt sein", sagt sie.

Julia Richter war Kundenberaterin in einer deutschen Großbank und damit Teil eines Systems, das nicht nur ihr schadete, sondern auch ihren Kundinnen und Kunden. Und das Finanzberaterinnen wie sie zu Opfer und Täter in einer Person macht. Um dem gewaltigen Vertriebsdruck gerecht zu werden und auf ihre Zahlen zu kommen, beraten sie bisweilen am Kundeninteresse vorbei, empfehlen überteuerte Kredite oder Lebensversicherungen oder raten zum Umschichten des Depots, um doppelt Provision zu kassieren.