Mona Linke

Freie Journalistin, Berlin

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Nigerianischer Flüchtling rät Landsleuten: Kommt nicht nach Europa

Foto: Mona Linke

Kassel. Mehr als drei Jahre dauerte die Flucht des Nigerianers Victor Osinachi. Nun soll er in sein Heimatland abgeschoben werden. Zuvor rät er seinen Landsleuten: "Bleibt zu Hause."

Von seinem Stuhl aus lässt Victor den Blick durch den kahlen Raum schweifen. Die Augen sind halb geschlossen. Mit dem gekrümmten Rücken und dem leicht geneigten Kopf wirkt er beinahe lethargisch. Ihm gegenüber sitzt Eddy Duru, Mitarbeiter im Ausländerbeirat der Stadt Kassel - und Mentor für ankommende Flüchtlinge.

Vor zwei Tagen ist Victor in sein Büro gekommen. Jetzt hält Eddy Duru dem jungen Mann ein Mikrofon hin. Im Hintergrund läuft eine Kamera. „Die Frage war: Wie bist du hierhergekommen?", sagt Duru mit lauter Stimme. Victor zögert. Seit fünf Minuten hat er kaum ein Wort gesagt. Aus Angst, wie Eddy Duru erklärt. „Er fürchtet, dass die Schlepper ihn drankriegen", sagt der 48-Jährige.

20 Minuten kostet es ihn, dem Asylbewerber eines klar zu machen: In Deutschland ist bekannt, wie Flüchtlinge über das Meer nach Deutschland gelangen. Dass sie auf überfüllten, alten, billigen Booten reisen. Auf einem solchen Schlauchboot, Victor nennt es „Lampa-Lampa", war der Nigerianer zusammen mit hundert anderen Flüchtlingen 14 Stunden unterwegs, um von Libyen nach Italien zu kommen. „Leute haben geweint. Das Boot ging hoch und runter. Dann wurden wir gerettet", erzählt Victor.

Dieses Video stammt nicht von hna.de, sondern von AFP und der Plattform Glomex.

Der Nigerianer hat mit 17 Jahren seinen Heimatstaat Abia im Südosten Nigerias verlassen, weil er Angst um sein Leben hatte. Victors Vater war Anführer einer nigerianischen Sekte. „Sie haben ihn umgebracht", erzählt Victor, der als erster Sohn als nächstes gewesen wäre. „Ich bin um mein Leben gerannt." Und dabei habe er immerzu ein Ziel vor Augen gehabt: Deutschland - für Victor auch „Traumland" genannt.

Victor Osinachi ist jetzt 20. Fast dreieinhalb Jahre hat er für die Flucht gebraucht. Dreieinhalb Jahre, in denen sich Victors Bild von Europa grundlegend geändert hat. „Bleibt zu Hause", sagt er in die Kamera, nachdem Duru ihn bittet, seiner Familie, seinen Freunden in der Heimat Nigeria von seiner Reise übers Mittelmeer zu erzählen. „Die Leute sterben da draußen."

Betteln in Flüchtlingscamps

Victor ist einer von zehntausenden Nigerianern, die jährlich die riskante Reise nach Europa auf sich nehmen. Ohne zu wissen, was das eigentlich bedeutet. Dass sie während der Überfahrt ertrinken könnten. Dass sie unterwegs beraubt oder als Sklaven verkauft werden könnten. Dass sie in den Flüchtlingscamps in Marokko und Italien betteln gehen müssen, um sich ihr Essen zu kaufen und irgendwann die nächste Überfahrt bezahlen zu können. Dass der Alltag für Jahre aus Schlafen, Essen und Wandanstarren bestehen wird. Victor war ahnungslos, bevor er in Nigeria auf den ersten Pick-up gesprungen ist, der ihn durch die Wüste in Richtung Europa bringen sollte. So ahnungslos wie der Rest seiner Landsleute, die völlig abgeschirmt von freien Medien, Fernsehen und Zeitung leben - und die Deutschland für das Paradies auf Erden halten. 

Eddy Durus Aufgabe ist es, diesen Traum zerplatzen zu lassen. Als politischer Flüchtling kam er selbst 1997 nach Kassel. Wenig später gründete er die Nichtregierungsorganisation Rarduja - und hält seitdem Vorträge in afrikanischen Universitäten, Schulen und Gemeinden. In Deutschland ist er Ansprechpartner für Geflüchtete, die mit falschen Wunschvorstellungen hier ankommen.

So jemand ist auch Victor. Der 20-Jährige hat längst begriffen, dass seine Flucht ein Fehler war. Per Videoübertragung soll er das jetzt seinen Landsleuten erklären. Über sein eigenes Schicksal wird Victor nun vermutlich nicht mehr entscheiden können. Wie er gestern erfahren hat, bleiben dem Nigerianer noch sechs Tage, um Deutschland „freiwillig" zu verlassen.

Weigert er sich, wird er abgeschoben und mit dem Linienflugzeug zurück nach Italien und dann in seine Heimatstadt gebracht. Verhindern könnte das nur ein Anwalt. Für den will Eddy Duru aufkommen. Im Erfolgsfall bestünde Victors Leben in Kassel dann zwar weiterhin zunächst nur aus Schlafen, Essen und dem Anstarren der Wand. Die Todesangst aber wäre er los.

Gleichzeitig würde Victor etwas gewinnen, wovon der Großteil der Nigerianer nur träumen kann: eine Perspektive.

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