Nach einigen Minuten gesellen sich die ersten instrumentalen Klänge zum Sprachgewitter der virtuosen britischen Poetry-Slammerin, die eher zufällig zur Rapperin wurde. Der folgende einstündige Lyrik-Sturm zu dürsteren Klängen ist für ein Konzert so ungewöhnlich wie die Erscheinung der sprachgewaltigen Blondine mit den harten Texten, die das postkapitalistische und kaputte London des 21. Jahrhunderts in unglaublicher Schonungslosigkeit beschreiben.
Eine zentrale Position in Tempests Texten nimmt eine Uhrzeit ein: Um 4.18 Uhr in der Nacht schlafen üblicherweise alle. Außer, sie haben gute Gründe, es nicht zu tun. Auf ihrem zweiten Album „Let Them Eat Chaos" stellt Tempest, eine der gegenwärtig aufregendsten musikalisch-literarischen Stimmen, sieben Menschen vor, die alle um genau diese Zeit - unabhängig voneinander - wach sind. Und die alle in ein und derselben Straße, irgendwo im Südosten Londons, leben.
Bilderstrecke Frankfurt: Kate Tempest in der Jugend-Kultur-Kirche Sankt PeterIn tiefen, eindringlichen Spoken-Word-Stücken, unterlegt von Elektro-Sound oder manchmal auch etwas dringlicheren Hip-Hop-Beats, erzählt die 30 Jahre alte Tempest, die mit bürgerlichem Namen Kate Calvert heißt, etwa von Alicia, deren Freund erschossen wurde. Oder Bradley, der Karriere macht und doch in Depression und Agonie versinkt. Alle diese Schicksale verwebt Tempest miteinander, saugt den Hörer hinein in das nächtliche London, das Menschen in lebende Ruinen verwandelt. Ist das mehr Rap oder doch mehr Literatur? Gleichgültig. Es ist Kunst.
Vor allem der Song „Europe Is Lost" beschäftigt viele. Handelt es sich um ein Protestlied gegen den Brexit? Oder gegen Rechte? Gegen alles, was rückständig, dumm und falsch ist? „England! England! Patriotism! And you wonder why kids want to die for religion", lautet die entscheidende Passage.
Tempest jedenfalls, die wir zuvor schon in Berlin getroffen haben, macht der Brexit „schrecklich traurig. Ich merke, dass meine nichtbritischen Freunde anfangen, sich unwohl zu fühlen". Am Ende sei „Europe Is Lost" aber nur eine Momentaufnahme, 4.18 Uhr im Leben von Esther, die nach einer Doppelschicht als Altenpflegerin geschafft heimkommt, wütend und verwirrt ist und „viel Schlaf braucht".
Wunderschön kaputtSo verschieden die von Kate Tempest einfühlsam und mit viel Empathie skizzierten Menschen auch sein mögen, was sie eint, ist ihre Verzweiflung an der Welt: Sie sind auf der Suche nach Sinn - und Liebe. In Tempests Texten geht es um Gentrifizierung und Konsumgeilheit, um das Gefühl, im Hamsterrad des Kapitalismus nicht mehr mitrennen zu wollen oder zu können. „Das sind Menschen und Probleme, die typisch sind für unsere Zeit", findet Tempest. Und doch, obwohl sie sehr politisch denkt: „Dieses Album ist kein politisches Manifest."
Produktiv ist sie, ob als Lyrikerin, Buch- und Theaterautorin oder Sängerin: Ihr Material sind zerbrochene Menschen, die sie auf der Straße aufliest, und wie es dazu kam. Tempest redet klar und mit fester Stimme. Sie schaut ihr Gegenüber jederzeit an, gelegentlich kommt auch eine Gegenfrage. Sie ist freundlich, zugewandt und hellwach. „Ich kann mich in diese Leute zwar hineinversetzen", sagt sie über ihre sieben schlaflosen, verlorenen Seelen, „denn sonst hätte ich sie mir nicht ausdenken können". Trotzdem sei „Let Them Eat Chaos" Dichtung, nicht Autobiografie. Die Straße, auf der das Album spielt, sich die kleinen, dunklen Dramen entfalten und schließlich in einem Sturm kulminieren, „diese Straße könnte überall sein, auch wenn sie der Straße im Südosten Londons ähnelt, in der ich aufgewachsen bin und noch lebe".
Tempest (den Namen hat sie natürlich von Shakespeares „The Tempest", zu Deutsch „Der Sturm") ist im etwas schäbigen Viertel Brockley großgeworden, als eines von fünf Kindern. Wann sie begonnen hat zu schreiben, weiß sie nicht mehr genau, es war jedenfalls früh. „Ich hatte diesen Drang, mich mitzuteilen, er war schon fast zwanghaft. Daran gekoppelt war auch gleich der Hunger, gehört zu werden." In der Schule lief es schlecht, Kate wechselte mit 16 an ein Kunst- und Musikgymnasium, an dem auch Adele und Amy Winehouse waren. Sie trat auf, „häufig spielte ich nur für den Barmann und den Typen an der Tür". Der Zuspruch ist gewachsen, vorsichtig ausgedrückt. Kate Tempest wird gern als die „Stimme ihrer Generation" tituliert. Doch das mag sie nicht hören. „Ich finde das doof und anmaßend. Meine Generation ist groß, und meine Stimme ist klein. Es geht darum, meinem Idealbild von Kunst ganz nah zu kommen", sagt sie. Das spürt man. Auch in Frankfurt.