Ist Martin Schulz Politiker oder politischer Popstar? Die Antwort lautet: Man weiß es noch nicht. Politisch hat der Sozialdemokrat aus Würselen in Berlin zwar noch keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Und dennoch hat er den deutschen Politikbetrieb innerhalb weniger Wochen komplett auf den Kopf gestellt. Seit Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD auserkoren wurde, sind Tausende Neumitglieder der Partei beigetreten. Beinahe täglich erreicht Schulz in Umfragen neue Höchstwerte. Die SPD ist erstmals seit Jahren an der Union vorbeigezogen, und laut einer aktuellen Insa-Umfrage gäbe es nun sogar eine Mehrheit für Rot-Rot-Grün. All das war vor wenigen Wochen völlig undenkbar.
Bild-ZoomFoto: Salome RoesslerDer Hype um den neuen starken Mann im Willy-Brandt-Haus scheint weiterhin keine Grenzen zu kennen. Doch wofür der bärtige Buchhändler aus Brüssel genau steht, das weiß noch immer niemand so genau. Ein bisschen wirkt Schulz wie eine leere Karaffe, in die alle sozialdemokratisch geneigten und selbst die vom Glauben an die SPD abgefallenen Menschen ihre Wünsche und Hoffnungen füllen können. Schulz ähnelt aber auch einem Flaschengeist, bei dem sich aus Angst vor einer Verpuffung niemand traut, als erster an der Flasche zu reiben. Die Frage wird lauten, ob die SPD es bis zum Herbst schafft, ihre Zauberkaraffe mit dem Etikett „soziale Gerechtigkeit" mit glaubwürdigem Inhalt zu füllen - oder wie bei Peer Steinbrück kläglich scheitert, wenn es ernst wird.
Doch der kollektive Vertrauensvorsprung ist beachtlich: Selbst Menschen, die nicht im Verdacht stehen, SPD-Sympathisanten zu sein, trauen diesem Mann mit seiner Vita als trockenem Alkoholiker, einstigem Buchhändler, Provinz-Bürgermeister und chronisch losem Mundwerk zu, frischen Wind in den angestaubten Berliner Politikbetrieb zu bringen. Ganz nebenbei wird Schulz vom Nimbus einer klassischen SPD-Biografie umweht, die bei manchem Genossen Erinnerungen an Willy Brandt hervorruft: Ein Macher, der sich an den eigenen Haaren aus dem Dreck gezogen hat und nun antritt, es allen zu zeigen.
Dabei gehört zur Wahrheit um den Schulz-Hype aber auch, dass die chronische Abneigung gegen Sigmar Gabriel und eine durch die Republik wabernde Merkel-Müdigkeit dem neuen Star am Politik-Firmament gehörig in die Karten spielen. SPD-Mitglieder erzählen, dass sie für Gabriel ungerne in den Straßenwahlkampf gezogen wären und nun umso motivierter auf die Bundestagswahl blicken.
Die größte Chance der SPD liegt jedoch in der Mobilisierung lange verloren geglaubter Wählerschichten: Wenn es der Partei gelingt, auch nur einen Bruchteil jener zehn Millionen Wähler zurückzugewinnen, die seit der Ära Gerhard Schröders von der Fahne gingen, könnte es tatsächlich für den ganz großen Coup reichen. Als Sprachrohr der kleinen Leute mit populistischen Anklängen scheint Schulz genau der richtige Mann für diese Mission zu sein.
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