Michael Wögerer schreibt in seinem Tagebuch über den Hunger nach Kultur und eine Lesung von Andreas Pittler.
Nach einem 10-stündigen Arbeitstag würde ich mich im Moment zwar am liebsten zu Hause ins Bett hauen und nichts tun. Doch heute steht noch ein kulturelles Schmankerl am Programm.
Elfie Resch hat mich im Zuge meines Selbstversuches 31 Tage Mindestsicherung auf das Programm der Kleinkunstbühne Werkl im Goethehof aufmerksam gemacht und die Verantwortlichen hatten beschlossen, dass ich im Mai ihre Veranstaltungen wie andere KulturpassbesitzerInnen kostenlos besuchen darf.
Mit dem Kulturpass erhalten sozial benachteiligte Menschen freien Eintritt in zahlreiche kulturelle Einrichtungen. Über 600 Kulturbetriebe in 6 Bundesländern und vier Stadtgemeinden in Niederösterreich unterstützen die Aktion Hunger auf Kunst und Kultur.
Also mache ich mich an diesem lauschigen Abend auf den Weg nach Kaisermühlen, zum Goethehof (Schüttaustraße 1-39), bei seiner Eröffnung im Jahr 1932 eine der größten kommunalen Wohnhausanlagen Wiens und - wie ich später erfahren werde - in den 1930er-Jahren eine Hochburg der Kommunisten.
Die Räumlichkeiten der ehemaligen Tuberkulose-Fürsorgestelle, wo sich heute das im Winter 2016 renovierte " Werkl " befindet, wurden zwischenzeitlich als KPÖ-Parteilokal, später als Polizei-Wachzimmer, danach bis 2012 von der Kleinkunstbühne Kaisermühlner Werkl und aktuell wieder vom Gewerkschaftlichen Linksblock (GLB) und der KPÖ genutzt.
Neben kostenloser Mietrechtsberatung liegt der Schwerpunkt allerdings im selbstverwalteten Kulturbetrieb.
Heute steht eine Lesung von Andreas Pittler am Programm. Der Historiker und Bestseller-Autor liest Szenen aus seinen kürzlich erschienenen Romanen „Das Totenschiff", „Die Spur der Ikonen" und „Wiener Kreuzweg".
Um mich vor Ort ein wenig umzusehen und mit dem Team des "Werkl" zu plaudern, bin ich eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn dort. Der Empfang ist herzlich, Wolfgang lädt mich auf ein Bier ein, Doris, Vera und Elfie unterhalten uns über meinen Selbstversuch und über ihre " emanzipatorische Kulturarbeit ".
Der Star ohne Starallüren betritt die Bühne, geduldig wartet er, bis das leider nicht allzu zahlreiche Publikum Platz genommen hat. Pittlers Lesung beginnt mit der Geschichte des Flüchtlingsschiffes "Struma", das 1942 im Schwarzen Meer torpediert wurde und dabei 799 Menschen den Tod fanden - die Briefe des einzigen Überlebenden, dem 19-jährigen rumänischen Juden David Stoliar.
Bedrückte Stimmung im Raum, zumal alles was uns Andi erzählt keine "Gschichtln" sind, sondern historische Begebenheiten in Romanform.
Beim zweiten Buch wird es allerdings kontrafaktisch. Pittler geht der Frage nach, wie es gewesen wäre, wenn nicht nur Berlin durch eine Mauer geteilt gewesen wäre, sondern auch zwischen den Wiener Bezirken Margareten und Wieden der "antifaschistische Schutzwall" der "ÖDR" errichtet worden wäre. Wir lernen dabei u.a. den FÖJ-Vorsitzenden Gusenbauer und das Politbüro-Mitglied Bruckner kennen. Man merkt: Pittler kennt sich gut aus in der linken Szene.
Das dritte Buch, dass uns der eifrige Autor vorstellt, ist der erste Teil seines „Wiener Triptychon" - der Lebensweg dreier Wiener Familien über drei Generationen hinweg. Band 1 ("Wiener Kreuzweg") behandelt die letzten Tage der Monarchie, den Weltkrieg, die Erste Republik und schließlich den Untergang Österreichs 1938.
Andreas Pittler macht Geschichte lesbar und mitlebbar. Seine historischen Kenntnisse und sein Blick für Details lassen längst vergangene Ereignisse im Kopf des Lesers wiederauferstehen. Am liebsten hätte ich mir gleich alle drei Bücher gekauft, aber das hätte mein restliches Budget für dieses Monat endgültig gesprengt.
Heute hatte ich nicht die Möglichkeit mir selbst zu Hause zu kochen, zwischendurch gab es einen Vogerlsalat und 2 Semmeln (1,59 Euro), hinzu kommen die Ausgaben für Tabak (7,20 Euro) und Getränke (4,08 Euro). Insgesamt waren es 12,87 Euro, die ich heute ausgegeben habe. In den nächsten Tagen muss ich mich deshalb am Riemen reißen und sparen, damit ich mit nur noch 97,41 Euro die restlichen 13 Tage auskomme.
Michael Wögerer ist ein österreichischer Journalist. Er arbeitet in Wien als Redaktionsassistent bei der Austria Presse Agentur (APA) und ist Mitbegründer von „Unsere Zeitung - die Demokratische", einem Kooperationspartner von Neue Debatte. Fragen, Anmerkungen, Lob und Tadel sowie Feedback zur Aktion, können als Kommentar unter dem Beitrag geschrieben oder an seine E-Mail michael.woegerer(at)gmail.com gesendet werden.Die bisherigen Tagesnotizen:
31 Tage Mindestsicherung - Eine Annäherung (30.4.)
Tag 1 - Kein Spiel! (1.5.)
Tag 2 - Konsumgesellschaft (2.5.)
Tag 3 - Öffentlichkeit schaffen! (3.5.)
Tag 4 - Lebensrealitäten (4.5.)
Tag 5 - Freundschaft (5.5.)
Tag 6 - Netzwerke (6.5.)
Tag 7 - Kein Märchen (7.5.)
Tag 8 - Befreiung (8.5.)
Tag 9 - Nachhaltigkeit (9.5.)
Tag 10 - Durchatmen (10.5.)
Tag 11 - Lebenserwartung (11.5.)
Tag 12 - Exklusiv (12.5.)
Tag 13 - Soziale Hängematte (13.5.)
Tag 14 - Sigi, du fehlst! (14.5.)
Tag 15 - Halbzeit (15.5.)
Tag 16 - Beim Frisör (16.5.)
Tag 17 - Für Lisa (17.5.)
Fotos: Michael Wögerer