Ein neues Album von Tocotronic ist ein Ereignis, „Schall und Wahn" macht da keine Ausnahme. Ein hysterischer Fiebertraum aus Angst und Unterdrückung: Euphorie ist, wenn der Schmerz nachlässt. Michael Weiland traf sich für hamburg:pur mit Jan Müller und Dirk von Lowtzow zum Gespräch.
DIY, also „Do it yourself" war ja mal so eine Maxime der Punkszene. Nun heißt die erste Single „Macht es nicht selbst". Ist das provokant gemeint?
Dirk: Provokation unserer selbst. Man muss ja alles selber machen. (lacht.)
Jan: Es ist schon ein bisschen provozierend, es wird ja überall wahnsinnig glorifiziert, wie kreativ neuerdings alle sein können.
Dirk: Es ist aber auf keinen Fall ein Diss der DIY-Punkszene, wir haben ja unsere erste Single mehr oder weniger selbst gepresst... (lacht.) Es ist eine Anklage gegen diese Forderung im zeitgenössischen Kapitalismus, diese Forderung der ständigen Selbstmobilisierung. DIY war ja mal eine Gegenbewegung zu einer herrschenden Meinung, inzwischen bist du ja gezwungen dich permanent selber zu erfinden, das ist ja ein gesellschaftlicher Imperativ. Insofern hat sich das, was mal DIY war, ja nahezu pervertiert und ist zu etwas geworden, was permanent von dir verlangt wird und auch zu Überforderung führt. Man darf aber nicht vergessen, dass das Stück ja doch sehr humoresk ist. Das ist ein Blödelknüller.
Im Info bezeichnet ihr die letzten drei Platten inklusive dieser als Berlin-Trilogie.
Dirk: Natürlich ist es immer auch ein Quäntchen Scherz mit dabei, auch die Lust an der eigenen Kategorisierung und an der Unterteilung in Werkgruppen. Man findet so was ja oft sehr witzig. Aber ich finde, da ist schon was dran, und die drei Alben verbinden sich auch ganz schön zu einer Gruppe.
Jan: Wir haben mit dieser Art live aufzunehmen und auf eine bestimmte Art zu arbeiten bei „Pure Vernunft darf niemals siegen" angefangen und sind über „Kapitulation" weitergegangen bis zu so einem Endpunkt... zumindest erscheint der einem wie ein Endpunkt. Damit ist diese Methode für uns aber auch ausgereizt. Irgendwie schien uns „Schall und Wahn" wie ein Abschluss, daher die Bezeichnung Trilogie.
Ihr seid, bis vielleicht auf Rick, alle auch in elektronische Projekte involviert. In den Tocotronic-Kosmos hat elektronische Musik aber nie so recht Einzug gehalten. Gibt es Dinge, die Tocotronic nicht sein darf?
Jan: Es gab ja schon eher elektronisch inspirierte Stücke von Arne, wie „Tag ohne Schatten". Und wir haben uns auch bei der weißen Platte, „Tocotronic", schon sehr mit dem Track-artigen Aufbau von Stücken beschäftigt. Aber um deine Frage zu beantworten, ich denke, Tocotronic ist noch lange nicht ausgelotet. Natürlich haben wir Restriktion auch immer als Aufgabe gesehen. Wir sind eine Rockband, eine deutschsprachige zudem - aber es gibt eigentlich keine Regel, die man nicht brechen darf.
Dirk: Wir finden so eine Selbstbeschränkung oft spannender als jede Möglichkeit zu haben.
Jan: Daraus erwächst auch so eine Stärke. Wie bei einem Konzentrat.
Dirk: Zuviel Freiheit macht auch arm. Wenn man alles zulassen würde, dann würde man sich verlieren, auch in der Abbildung der eigenen Vorlieben. Nur weil ich persönlich gerne Freejazz von John Coltrane höre, muss man das nicht unbedingt machen.
Jan: Stichwort Schnapsidee. (Gelächter.)
Dirk: Weil es einfach wichtig ist, ein bestimmtes Regelwerk zu haben, was eine Rockband wie Tocotronic zu sein hat. Und wie du richtig sagst, wann immer es diesen Rahmen sprengt, fangen wir lieber ein neues Projekt an. Was aber nicht heißt, dass wir die Grenzen einer Rockband nicht ausdehnen und alle Ecken beleuchten.
„Schall und Wahn" (Universal)Dieser Text erschien ursprünglich in hamburg:pur, Januar 2010 Zum Original