Michael Trammer

Foto, Video & Text, Hannover

6 Abos und 0 Abonnenten
Artikel

Lwiw: Eine Stadt bereitet sich auf den Ausnahmezustand vor

Lwiw. Langsam und friedlich rieselt über Lwiw, der siebtgrößten und westlichsten Stadt der Ukraine, der Schnee herab. Vor einem Café stehen Menschen Schlange. Autos donnern über das hügelige Bordsteinpflaster. Es ist kurz nach 8 Uhr morgens. Seit wenigen Minuten ist die Ausgangssperre beendet. Die Stadt erwacht. Und auf den ersten Blick würde man in der Innenstadt vielleicht nicht auf die Idee kommen, dass auch Lwiw unter Beschuss geraten könnte. Immer wieder gab es zwar Luftalarm, die Nächte am Wochenende waren aber ruhig.

+++ Alle Entwicklungen im Liveblog +++

In der Altstadt, rund um das Rathaus, sind es die kleinen Dinge, die als Erstes ins Auge stechen und das Bild stören. Zahlreiche Statuen in der Stadt sind etwa in Styropor gehüllt. Die Fenster mehrerer Kirchen sind mit meterhohen Spanplatten vernagelt. Zahlreiche Scheiben der Geschäfte und Cafés in der Fußgängerzone sind mit einem großen X aus Tape versehen. Wer fotografiert, wird von Zivilpolizisten angesprochen: „Hier bitte nicht, das ist ein strategisches Gebäude."

In der gesamten Stadt sind immer wieder Straßen und Zugänge verbarrikadiert. An fast jeder Ecke hängen Plakate mit Aufrufen, die ukrainische Armee zu unterstützen. Eines davon zeigt den Kreml, der wie ein Schiff sinkt.

Sandsäcke drücken sich meterhoch gegen die Innenseite mancher Fenster. Möchte man rein oder raus aus der Stadt, kommt man an den provisorisch aufgebauten Checkpoints nicht vorbei. Autoreifen türmen sich neben dem Straßenrand, bereit dazu, in Barrikaden verwandelt zu werden. Panzersperren aus metallenen Trägern stehen daneben. Betonklötze mit Öffnun­gen zum Hindurchschießen sind aufgeschichtet. Polizei und die sogenannten Territorialen Verteidigungseinheiten kontrollieren Autofahrer. Manche müssen an die Seite fahren und werden genauer unter die Lupe genommen. Überall wehen ukrainische Fahnen und auch immer wieder die rot-schwarze Fahne der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die sich trotz ihrer zweifelhaften Geschichte und Kollaboration mit den Nationalsozialisten hier großer Beliebtheit erfreut und als Symbol des Kampfes für eine unabhängige Ukraine und gegen die verhasste Sowjetunion und Russland gilt. Die UPA beteiligte sich allerdings auch an Pogromen gegen Jüdinnen und Juden.

Lwiw als Zentrum jüdischen Lebens - bis Beginn des zweiten Weltkriegs

Die 730.000-Einwohner-Stadt Lwiw war bis zum Einmarsch der Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren ein Zentrum jüdischen Lebens. Wie es in einem Buch zum Zerfall der Sowjetunion von Roman Szporluk heißt, waren 1931 noch etwa 31,9 Prozent der Einwoh­nerinnen und Einwohner jüdischen Glaubens. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs gab es dann nur noch einen Anteil von etwa 6 Prozent Jüdinnen und Juden. Fast alle wurden im Zuge der Schoah getötet. Heute stehen in der Stadt nur noch zwei Synagogen.

Eine davon ist die Tsori-Gilod-Synagoge im Westen der Stadt. Das Gebäude drängt sich zwischen Wohnhäuser. Ein Davidstern ziert das Fenster über dem Eingang. Davor steht ein Reisebus geparkt, der aus Kiew kommt und mit dem Menschen hierher evakuiert wurden. Hinter der metallenen Tür spielen Kinder. Sicherheitsleute gehen auf und ab. Es ist Shabbat.

Andrej Solotarew steht vor der fast hundert Jahre alten Synagoge. Er ist Vertreter der jüdischen Gemeinde in Lwiw. Eingepackt in eine weinrote Daunenjacke steht er hinter dem geparkten Reisebus. Er sehe wohl nicht wirklich jüdisch aus, sagt er lachend, während er auf seine ausrasierten Haare zeigt. Eigentlich ist er Tätowierer. Die Situation in der Stadt sei gerade sehr schwer. Tausende Menschen kommen an und gehen weiter. Den Bus orga­nisieren sie für ihre Frauen und Kinder. „Das jüdische Volk kann sich leider nicht an solche Situationen gewöhnen, wo man massenhaft vor dem Krieg flüchten muss. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass so etwas im 21. Jahrhundert möglich sein kann. Aber die Geschichte lernt scheinbar nichts."

Am Ende hofft er nur eins: „Das dies alles nur ein schlechter Traum war."

Dass sich die Stadt auf einen Ausnahmezustand vorbereitet, merkt man auch vor allem rund um militärische Gebäude. Männer und Frauen in Uniform, mit Kalaschnikows bewaffnet, patrouillieren im Norden der Stadt um eine Militärbasis. Die Zufahrten sind mit Reifen, Mülltonnen und Steinen verbarrikadiert. Eine Gruppe junger Soldatinnen und Soldaten joggt vorbei. Die Kämpferinnen und Kämpfer dürften kaum älter als zwanzig Jahre sein. Auf dem Gelände stehen riesige, alte sowjetische Militärlaster geparkt. Alle paar Meter blicken Soldatinnen und Soldaten durch den Zaun und beobachten, wer vorbeigeht.

Vor der Eingangstür des „NCU Military College" steht eine lange Schlange. Freiwillige stehen an, um sich den Territorialen Verteidigungseinheiten anzuschließen oder andere Aufgaben zu übernehmen. Einer von ihnen ist Tymo. Er trägt eine graue Anzughose und eine schwarze Umhängetasche. Bis vor wenigen Tagen lebte er in Kiew, doch gemeinsam mit seiner Mutter und Schwester hat er die ukrainische Hauptstadt in Richtung Westen verlassen. Jetzt meldet er sich als freiwilliger Helfer, so, wie es das Dekret des ukrainischen Präsidenten verlangt. Wer männlich, über 18 und unter 60 Jahre alt ist, muss momentan im Land bleiben. „Ich hatte noch nie eine Waffe in der Hand. Aber ich kann Sachen packen und etwas mit meinen Händen machen", sagt der 20-Jährige. Mit ihm warten unzählige weitere Freiwillige. Tymo hat die Nummer 600 gezogen und stellt sich auf eine lange Wartezeit ein.

Die Stadt als humanitärer Korridor

Vor allem die Gegend um den Bahnhof ist derweil zur Drehscheibe für Geflüchtete und Kämpfer, die in Richtung Osten fahren, geworden. Man merkt in der gesamten Stadt, dass die Stimmung angespannt ist. Wer Fotos macht, wird schnell verdächtig. An einem Punkt mit Blick über die ganze Stadt stoppt auf einmal ein Auto. Zwei Männer springen heraus und beginnen wie wild auf Ukrainisch zu reden. Sie vermuten, in den Autoren und Autorinnen dieses Textes russische Saboteure, blockieren die Straße und ziehen eine Person die englisch spricht am Telefon dazu. „Wir haben die Polizei gerufen, sie können auch wegrennen, dann werden sie schießen", sagt die Frau am Telefon. Mit Eintreffen der Polizei, einer Prüfung der Kameras und des Wagens beruhigt sich die Situation schnell. Nichtsdestotrotz zeigt das Handeln der beiden Männer, wie groß die Angst vor einer Attacke auf die Stadt und eine Zersetzung durch russische Kollaborateure ist.

In den frühen Abendstunden ziehen dann noch zahlreiche junge Menschen, teilweise gekleidet, als ob sie feiern gehen wollen, durch die Straßen. Das Haus verlassen oder gar Fotos machen ist ab 10 Uhr allerdings verboten. Lange Fahrzeugkolonnen donnern nachts durch die Innenstadt. Wagen mit roten Kreuzen auf der Motorhaube werden von Polizeieinheiten eskortiert. In der Ferne hört man Züge ein- und ausrollen. Lwiw ist Teil des kürzlich eingerichteten humanitären Korridors und wird sicher weiter eine zentrale Rolle bei der Versorgung Geflüchteter und der Ukraine mit Hilfsgütern spielen.

Zum Original