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Les Flâneurs | Reeperbahnfestival 2013, Tag 4: Einlassstopps und ihre Möglichkeiten

múm

Ja, der Samstag ist der wichtigste und vollste Tag des Reeperbahnfestivals. Und ja, dem habe ich Tribut gezollt, indem ich mir waghalsige -zwei- Konzerte und eine Aftershowparty vornahm. Das ist gar nicht mal so absurd, denn im Zeitraum von 21 bis 23 Uhr spielten gefühlt 25 Bands, die ich alle gerne gesehen hätte, simultan und damit eh unerreichbar. Da mussten Prioritäten gesetzt werden, und die lagen bei mir dieses Mal auf Altbekanntem. Bevor es aber losging, musste eine selbstgeschaffene Tradition gewahrt werden. Das Reeperbahnfestival läutet den Herbst ein, wunderbar golden in diesem Jahr, und wie die ersten Pflaumen ihren Weg in den Supermarkt meines Vertrauens fanden, musste ich auch wieder den ersten Pflaumenkuchen des Jahres backen. Damit vertrieb ich mir den Samstagnachmittag, denn zwei Kilo Zwetschgen wollen erst einmal entkernt und halbiert werden. Gelungen ist er auch wieder, und als ich nach der Prozedur meinen Rücken spürte, stand ebenfalls fest: Heute geht es mit der U-Bahn zum Festival. Nach drei Tagen mit dem Fahrrad und zusammengerechnet einer Strecke von fast 100 Kilometern in dieser Zeit, hatte ich mir das verdient. Und es beeinflusste meinen Festivaltag entscheidend, wie sich herausstellte.


Doch zuerst: múm. Es ist acht Jahre her, dass ich sie live sah, das letzte Mal im Kölner Gebäude 9 im Jahr 2005, einer alten Fabrikhalle, in der ich bisher ausnahmslos großartige und wichtige Konzerte sah. Damals war die „Summer Make Good"-Tour angesagt und múm so atemberaubend, dass ich mir vornahm, sie wann immer möglich live zu sehen. Dann ging es leider abwärts mit den Isländern. Kurz nach der Tour verließ Vokalistin Kristín Valtýsdóttir die Band, und mit ihr die Avantgarde und ja, auch der Charme die Band. (Sie brannte übrigens mit Avey Tare vom Animal Collective durch, von dem sie inzwischen wieder geschieden ist ... Ouh Snap!) Das noch teilweise mit ihr geschriebene Album „Go Go Smear The Poison Ivy" von 2007 war gut, aber nicht großartig, das ohne sie 2009 veröffentlichte „Sing Along To Songs You Don't Know" gefährlich nahe am Totalausfall. Plötzlich waren múm beliebig, niedlicher Islandfolk von der Stange, den sie selbst durch ihre innovativen Frühwerke hervorriefen. Wenig erwartete ich mir daher vom neuen Album „Smilewound" und wurde doppelt überrascht. Kristíns Schwester Gyða, die bereits nach múms Meisterwerk „Finally We Are No One" der Band den Rücken kehrte, ist wieder dabei. Und „Smilewound" ist großartig. Ein Midtempoelektrojuwel, das nicht krampfhaft an alte Zeiten anknüpft, sondern múm näher an Synthies heranführt, aber auch Gyðas Spezialität, die Streicher, insbesondere das Cello, wieder wesentlich in den Sound zurückholt. Und das Set im Uebel & Gefährlich war ein einziges Best-Of-Fest, das mit meinem absoluten Lieblingslied der Isländer eröffnet wurde: „The Land Between Solar Systems". Hier war von Vorteil, dass die anbetungswürdig schönen Valtýsdóttir-Schwestern Zwillinge sind - es fühlte sich ein wenig an, als wäre Kristín wieder zurück. In ihrem Wallekleid, mit einem elektrischen Umschnallcello bewaffnet holte Gyða die múmagie zurück auf die Bühne. „Weeping Rock, Rock", „Now There's That Fear Again", eine umarrangierte Version von „A Little Bit, Sometimes", eine Perle reihte sich an die nächste, mir ging das Herz sehr auf. Sogar „The Ballad Of The Broken Birdie Records" vom Erstling fand seinen Weg ins Set, was mich riesig freute und ziemlich überraschte, genauso wie Gyðas Showeinlage dazu. Zum manischen Refrain drehte sie sich quasi selbst mehrfach den Hals um, schmiss sich daraufhin deutlich krachend auf den Boden der Bühne. Das dann in jedem Refrain, beim verlängerten Schlussteil rund ein Dutzend Mal. Dabei besteht sie doch sowieso nur aus Haut und Knochen ... ich hoffe inständig, dass sie die skurrile Show nicht bei jedem Konzert abzieht, denn das gibt auf Dauer sicher blaue Flecken. Sympathischer und schonender war, wie sie das Publikum dazu animierte, die Vögel des Songs durch Pfeifen zu imitieren. Aber genug von Gyða, es ist jetzt schon zu offensichtlich, dass ich ihr ein wenig verfallen bin. Das Vocalzusammenspiel von, böse gesagt, Ersatzsängerin Mr. Silla (ja, Mr., das ist kein Vertipper), die nicht die gerade die aufregendste Stimme auf Erden hat, funktionierte wunderbar. Die neuen múm sind live so grandios wie 2005, wenn nicht besser.


Rausgeschwebt und Problem erkannt: kein Fahrrad und nun in 30 Minuten runter zur Prinzenbar für Slut. An sich kein Ding, 20 Minuten Fußweg, aber dann terrorisierte mich mein Handy: auf halber Strecke fragte Philippschon, wo ich bleibe, denn ich hatte ihm fest versprochen, für sie Show der Ingolstädter zu ihm zu stoßen. Gleichzeitig sendete mir die Festivalapp die Benachrichtigung, dass es einen Einlasstopp im Gruenspan gibt. Na wunderbar. Zehn Minuten vor Start angekommen, zog sich die Schlange schon fast runter zum Transenstrich und ein von mir gestellter Ordner schüttelte nur den Kopf, als ich ihn fragte, ob ich mit meinem Presseprivileg irgendwie reinkäme. „Die haben gerade 30 Leute reingelassen, keine Ahnung, wann es weitergeht." 30, ah ja, etwa ein Achtel der Schlange also. „Sorry, Einlasstopp, ich bin nebenan in der Freiheit", hätte meine Message an Philipp gelautet, wäre das Netz nicht heillos überlastet gewesen. Denn dank des Überangebots an Highlights nutzte ich die Chance, die 20 Minuten später startenden Efterklang endlich mal live zu sehen. Sind ja nur ein paar Schritt weiter nebenan in der Großen Freiheit 36, also war ich rechtzeitig vor einem weiteren Einlasstopp in der Halle, der auch das Konzert der Dänen ereilte. Irgendwie hatte ich die Truppe von ihren Platten melancholischer in Erinnerung. Fast das Gegenteil ereilte mich, eine brillante Indiestadionrockshow, nahe am Arcade-Fire-Feeling, von adrett gekleideten Musikern. Der in weißem Anzug mit Fliege und sympathischem Dauergrinsen ausgestattete Sänger Casper Clausen ließ mich denken: Hätte ein fähiger Regisseur eine ordentliche Verfilmung vom „Great Gatsby" gemacht, die nicht zugunsten hohlen Hippopulismus für die Masse frontal auf die Romanvorlage kackt, hätte Clausen problemlos die Hauptrolle übernehmen können. Denn so habe ich mir Gatsby immer vorgestellt: groß, charmant, wortgewandt, aber von dunklen Augenringen des jahrelangen Leides gezeichnet. Vielleicht in einer Paralleldimension, irgendwo, existiert diese würdige Version. Rundum cool pompig, von subtilem Tiefgang gezeichnet und großartig gespielt war jedenfalls diese wunderbare Show, die letztlich vielleicht von Anfang an die bessere Wahl für mich war, denn das letzte Album von Slut ließ mich eher kalt. Aber ich weiß um ihre Livequalitäten. Schade, aber Efterklang waren doch der perfekte Abschluss für diese insgesamt wunderbaren vier Tage.


Daher kickte ich letztlich auch die Media-Aftershowparty mit den free Drinks und gab meiner Verabredung durch, dass ich mir den runden Eindruck des Abends nicht versau(f)en will, so sehr man mich mit kostenlosem Alkohol auch immer ins Boot bekommt. Außerdem sollte am kommenden Vormittag schon der nächste Besuch aufschlagen und diese vier Tage Action und Eindrücke saßen mir doch in den Knochen. Klar, ich werde auch das nächste Jahr nicht fehlen können. Es ist einfach das bestorganisierteste Festival Deutschlands, mit einem durchweg exzellent gemischten Lineup. Im Schlimmstfall sieht man hier mal ein mittelmäßiges Konzert, im Normalfall entdeckt man eine weitere neue Lieblingsband. Dass viele großartige Dinge gleichzeitig passieren, dafür kann ja nun das Festival nichts. Meine Erfahrung hat gezeigt: Sich gezielt wenig vornehmen, Zeit für die Bands nehmen und es entspannt angehen lassen, kann für einen runderes Erlebnis sorgen als das Gehetze von einem Hype zum nächsten. Von meinem heroischen Kampf gegen den Samstagstoursimus der Reeperbahn auf dem Weg zur U-Bahn erzähle ich dann nächstes Mal...

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