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Les Flâneurs | Reeperbahnfestival 2013, Teil 3: Reinigende Kälte

Julia Kent.

Ich ärgere mich ein wenig über mich selbst. Donnerstag habe ich gleich zwei meiner Vorsätze gebrochen. Etwas hetzen lassen habe ich mich, und ich habe Konzerte vor ihrem Ende verlassen. Das mag für manche eine Lappalie sein, aber mir war es dieses Mal besonders wichtig, das nicht zu tun. Entsprechend entschlackte ich meinen Plan für Donnerstag und war drauf und dran, den ganzen Abend in der St. Pauli Kirche zu verbringen. Ganz durchgezogen habe ich das letztlich nicht, auch wenn es für ein runderes Bild des Abends gesorgt, mir hauptsächlich aber wieder eine Menge Menschenhass erspart hätte.


Davon war ich zuerst noch weit entfernt, als ich auf dem Weg zur Reeperbahn den wohl schönsten und dramatischsten Sonnenuntergang meines Lebens überm Hamburger Hafen sah. In mehreren Lagen, von Grau zu Dunkelblau, zu Azur, zu einer Schicht epischem Rot, schob sich der Himmel auf die Erde herunter. Erst recht passend, wenn man die Location des Abends bedenkt. Bevor ich die St. Pauli Kirche betrat, genoss ich ein paar Minuten im Park Fiction, der direkt hinter ihr gelegen ist, und fühlte mich geborgen, zuhause, hier in dieser Stadt. Ein paar Schritte weiter war das ähnlich, in der St. Pauli Kirche sah ich 2011 das für mich beste Konzert des Festivals von I Am Oak und verliebte mich in den für die Shows bunt ausgeleuchteten Ort der Ruhe, denn nirgends wurde so wenig gebrasselt wie hier. Ein wenig Ehrfurcht erzeugt sie also doch, die ach so hip-atheistischen Großstädter, von denen die meisten sicher sonst im Jahr keine Kirche von innen sehen. Und ich fand eine schöne Analogie, als ich den Altar betrachtete und den Aufbau der ersten Band des Abends sondierte. Es war der dritte Festivaltag, mit drei Bands auf dem Programm, die heilige Zahl - Trinität anyone? Man muss mir hier nicht folgen, aber mir gefiel das sehr.


Zuerst spielten die Texaner von Balmorhea ihre wohlklingend polyphone Mischung aus Postrock und Folk, deren Charme mich schon zu Beginn des Abends einlullte und die Stimmung setzte. Wie so viele (Musiknerds?) hatte ich in meiner Studentenzeit die große Postrockphase, geblieben sind mir davon aber nur ein paar große Namen wie Godspeed You! Black Emperor, Explosions In The Sky oder Mono. Der Rest fiel irgendwie hinten runter, als die Zeit für das intensive Hineinhören in überlange Hoch-und-Tief-Epen verlorenging. Umso schöner war es, in den verschachtelten Kompositionen Balmorheas für eine Stunde eintauchen zu können, und eben diese Konzentration wiederzufinden.


In der Pause leerte sich die Kirche und füllte sich später nur noch etwas mehr als zur Hälfte. Dass Julia Kent nicht für einen Einlassstopp wegen Überfüllung sorgen würde, war mir klar und sehr recht. Die Quasi-Hauscellistin von Antony and the Johnsons konnte ich mir nicht entgehen lassen, weil das Cello das wohl schönste Instrument auf Erden ist. Wo vorher sieben Personen die Bühne füllten, nahm nur die zierliche, schattenhaft wirkende Musikerin mit ihrem Instrument und einem Laptop Platz. Ähnlich wie etwa Owen Pallett oder Loney Dear bedarf auch Julia Kent keiner Band. Sie loopt ihre live eingespielten Sätze, weitere Effektspuren kamen vom Band. Während ich vollends in die düster-melancholischen, mit schwerer Schönheit verzierten Wiederholungen eintauchte, ahnte ich den großen Fluß, der sich nur wenige hundert Meter hinter den Steinen der Kirche seinen Weg durch die Metropole bahnte und sah mich mittreiben. Die Kälte der Kirche kroch mir unter meine neue, extrawarme Herbstjacke, ich musste meine mitgebrachten Handschuhe anziehen und dann für jeden Applaus ablegen. Trotzdem mag ich die Kälte in Kirchen, denn sie fühlt sich so sauber an und reinigend. Es kommt mir manchmal vor, als fror ich nicht auf der Haut, sondern unmittelbar darunter. Beim Anblick des dünnen, schwarzen Kleidchens, das Kent selbst kommentierte mit „I wear this in honour of this amazing venue, but there are good dresses for shows and bad dresses for shows. This is a bad one", musste ich aber wohl auch aus Solidarität etwas mitzittern. Gerne hätte ich das noch länger, aber letztlich entschied ich mich doch gegen den auf Kent folgenden, legendären Pianisten Lubomyr Melnyk, der neuerdings bei einem meiner Lieblingslabels, Erased Tapes, untergekommen ist, und fuhr mit dem Rad ins Uebel & Gefährlich.


Für einen weiteren Nachschlag. Me and my Drummer. Natürlich ist es in fast utopischem Ausmaß idiotisch, sich schon wieder eine Band das zweite Mal anzusehen, wenn so viel Neues und Unbekanntes und sicher auch einiges Großartiges simultan auf Entdeckung wartet. Aber ich kann mich oft nicht dagegen wehren, wo mich das Herz hinzieht. Dass es mich aus der Kirche in das nun immerhin immer sehr gemütliche Uebel & Gefährlich zog, war nicht das Problem des Konzertes, das war der bei mir irgendwann wohl heimtückisch von Erzfeinden oder bösen Geistern implantierte „Psychomagnet", wie ich ihn nenne. Wenn bei Konzerten irgendwo gepöbelt wird, Pogo aus dem Ruder läuft, Betrunkene alles zusammenschreien oder auf sonstige Weise das empfindliche Konzertklima zu Schaden kommt - dann stehe ich genau daneben und kriege die Breitseite ab. Das hat schon illustre Formen in meinem Leben angenommen. Dieses Mal verhielt es sich mittelmäßig schwer, denn die drei Teeniebratzen, die sich während aller Lieder in den quäkigsten, fast wie hochgepitchten Stimmen anschrei-unterhielten, waren nicht das Fatalste, das ich so erlebte, aber ganz oben bei den Top drei der nervigsten Störereien. Solche Kinder fordert man auch besser nicht dazu auf, doch bitte etwas leiser zu sein, denn dann beißen sie sich erst recht an einem fest, und wer schon mal drei kleine quietschende Freundinnen erlebt hat, der weiß, wie ‚angenehm' das ist. Wurst, denn mir war es lieber, wenn sie still über mich, den grumpelligen Typen, tuschelten, als miteinander geiferten. Das Highlight schossen die Zuckerschnütekens ab, als sie in einer Pause zwischen den Songs Charlotte Brandi entgegen riefen: „Spielt mal Me and my Drummer, ach ne, wie heißt das, You're my Runner, WOOHHOOO!" - Brandis grandiose Reaktion darauf: „Okay, ihr Opfer!" Manchmal ist ihr bissiger Sarkasmus auch einfach auf den Punkt gut, denn ihr ist das Dauergeschwatze in der ersten Reihe sicher auch nicht entgangen. Sei es drum, davon ab lohnte der Zweitbesuch natürlich; das Set stellten sie minimal um und lieferten eine zuvor fehlende, rumpelnde Vollgasversion von „Down My Couch" ab und vor allem ein Stück, das ich zuletzt im Mai von ihnen hörte. Beide sind unüberhörbar in ihrer Musik inspiriert von den schwedischen Wildbirds & Peacedrums, deren besten Song „The Wave" Charlotte mit den Worten eröffnete: „Wir sind ja ein bisschen neidisch, am liebsten hätten wir dieses Stück selbst geschrieben." Ihre Version hingegen ist deutlich schwerer, dramatischer und ganz in theatralischem Moll gehalten. Wie man es eben von ihnen mag. Allein dafür lohnte sich der Nachschlag, denn mit den Wildbirds & Peacedrums hatte ich in den letzten Woche eine liebevolle Dauerrotationsbeziehung. Weiter über den Rest der Stücke und Brandis immer makellose stimmliche Darbietung zu schwärmen, würde meine nicht vorhandene Neutralität als Musikjournalist kompromittieren. Das muss ja nicht sein, hier also Schluss.


Beim Verlassen des Medienbunkers treffe ich dann noch Philipp, mit dem ich mich zu Slut am nächsten Tag verabrede, und auf halber Strecke heimwärts versucht man, mich per whatsapp zu einer Aftershowparty mit free Drinks zu überreden. Aber ich möchte diesen zu zwei Dritteln mit reinigender Andacht und einem Drittel Hass auf kleine Mädchen verbrachten Konzerttag als zweitschönsten des Festivals in Erinnerung behalten - und nehme mir fürs nächste Mal so fest es geht vor, den ganzen Abend in der St. Pauli Kirche zu verbringen.

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