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Les Flâneurs | Unter Tränen (9): Omimi

Foto: Michael Schock

Meine Omimi hat Demenz. Seit dem Tod meines Opas Ende Juni verschlechtert sich ihr Zustand immer schneller. Zum Schluss saßen die beiden nur noch nebeneinander und starrten auf den Fernseher. Geredet haben sie wohl seit Jahren nicht mehr richtig. Das wissen wir, denn sie wohnten in der ersten Etage meines Elternhauses, in ihrer eigenen Wohnung. Mein Opa wurde 91, sie ist 84. Nun sitzt meine Omimi meist vorne im Sessel, im Wohnzimmer meiner Eltern, vorm Fernseher. Sie schalten ihr manchmal „schöne Musik", Heimatsendungen oder Ähnliches ein. In der Hoffnung, sie registriere noch etwas. Aber seit einigen Wochen brabbelt sie nur noch vor sich her, redet mit sich selbst. Manchmal immer lauter werdend. „Einmal ist sie unter Tränen aufgestanden und hat mich angeschrien, sie habe seit vier Tagen nichts zu essen bekommen", sagt meine Mutter. Manchmal schimpft sie wie ein Rohrspatz über meinen Opa. Die Ärzte haben erklärt, dass sie sich jetzt immer rapider zurück entwickelt, bis in den Babystatus zurück. Wenn ich lausche, was sie sagt, geht es meist um irgendwelche Kinder. „Die Kinder, die Kinder ... sie hat ja auch Kinder ... was sollen sie ohne die Kinder ..." Das zweithäufigste Thema ist Essen. Man müsse doch etwas essen, das Essen, es ist nichts zu essen da, sie kriegt kein Essen. Meine Eltern setzen sie immer an den Tisch, müssen ihr sagen, sie solle ins Brötchen beißen, Tee dazu trinken. Sonst sitzt sie nur da und schaut. Sie isst gut, aber trotzdem wurde sie immer dünner im Laufe der Zeit. Die Nachbarin Frau P., mit der sie immer zum Frauenkreis gefahren ist, als sie noch bei sich war, ist das dritthäufigste Thema ihrer Selbstgespräche. Ich kann nicht ausmachen, was sie sagt. Manchmal kommen unsere Namen vor, etwa der meines Bruders. Dann werde ich hellhörig. Ich kann aber nicht ausmachen, was sie sagt. Sie scheint jedoch meistens zurück im Krieg zu sein, als die Sorge um das Essen und die Kinder groß war. Meine Omimi war immer eine starke Frau, ein Löwe wie er im Buche steht. Ihre Meinung hat sie immer trotzig vertreten, kein Blatt vor den Mund genommen. Wenn ich von der Schule kam, bin ich immer hoch zu meinen Großeltern gegangen und habe mit ihnen zu Mittag gegessen. Meine Eltern haben in Schichten gearbeitet, mittags war nie jemand zu Hause. Aber Omimi hatte ja gekocht, war da, alles war gut. Ich war immer ihr Lieblingsenkel, das sagte sie zu Beginn ihrer aufkeimenden Krankheit auch vor den anderen. Das war mir sehr peinlich. Sie erkennt mich nur noch selten, sagt, ich sei ihr Sohn, ihr Bruder, ihr Mann. Einmal, als ich Grundschüler war, schickte sie meinen Bruder los, weil der große schwarze Hund in der Nachbarschaft wieder frei herumlief und sie wusste, was für Angst ich vor ihm hatte. Ich habe vor einigen Jahren in den Semesterferien oft mit ihr beim Neurologen gesessen und auf ihre Untersuchung gewartet, manchmal vier Stunden lang. Ich frage meine Mutter, was wir tun können, so kann es doch nicht weitergehen. Sie hat schon eine hohe Pflegestufe, wird häufig zur Tagesbetreuung abgeholt. Aber es ist trotzdem eine riesige Belastung für meine Eltern, ich mache mir auch Sorgen um sie. Meine Mutter sagt, sie bringe es noch nicht übers Herz, sie in ein Heim zu bringen. Also sitzt dort meine Omimi und brabbelt, während wir versuchen, es zu ignorieren und uns zu unterhalten. Und ich frage mich, was das Leben ohne Bewusstheit noch wert ist. Und es bricht mir das Herz.

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