von Merle Bornemann 08. September 2018, 20:13 Uhr
Im Duden stehen 145.000 Wörter, der Durchschnittsdeutsche verwendet davon nur etwa 14.000. Sie verwenden sicher mehr, oder?
Das
hoffe ich, weil ich mich viel mit Sprache beschäftige, allein schon
durch meinen Beruf, aber auch durch persönliches Interesse. Ich bemühe
mich – zumindest wenn ich schreibe – um Vielfalt. Das heißt aber nicht,
dass ich jeden Tag eine unglaublich gepflegte, gewählte Sprache benutze.
An welchen „vergessenen Wörtern“ hängen Sie am meisten – und gibt es dazu vielleicht die eine oder andere Anekdote?
Mein
Lieblingswort ist blümerant. Weil es einfach so ein schönes Wort ist,
mit einer schönen Geschichte. Das stammt aus dem Französischen, wurde
dann stark eingedeutscht – früher kannte man im Gegensatz zu heute kein
Pardon, französische Wörter komplett deutsch auszusprechen. Obwohl das
Wort so sehr eingedeutscht wurde, sieht man dem Wort immer noch an, was
es bedeutet. Sowas mag ich einfach an Wörtern.
Dann gibt es natürlich auch Wörter, die in meiner persönlichen Geschichte eine Bedeutung haben. „Schlingel“ zum Beispiel hat meine Oma immer zu uns Kindern gesagt. Seitdem habe ich es nie wieder gehört, lustigerweise hat mir meine zwölfjährige Tochter vor Kurzem erzählt, dass sie „Schlingel“ in der Schule durchaus sagen – was mich total gewundert hat. Das ist doch eine tolle Geschichte, wie so ein Wort in Vergessenheit gerät und dann plötzlich wieder rausgeholt wird. Warum, das kann wahrscheinlich niemand sagen.
Wie reagieren Ihre Kinder denn auf Ihre Lieblingswörter? Nutzen sie diese auch?
Teils,
teils. Gegenüber meinen Kindern benutze ich viele Wörter auch bewusst
nicht, und wenn ich sie mal benutze, wundern sie sich. Dann denke ich:
Man müsste eigentlich im Alltag eine größere Wortvielfalt benutzen. Das
wäre eine große Chance, den Wortschatz von Kindern zu erweitern.
Texten ist ihr Beruf. Sie arbeiten als Radiojournalistin und
Autorin. Lassen Ihre Chefs Ihre Wortwahl immer durchgehen – oder steht
dort manchmal „veraltet“ dran?
Nein, das passiert nie. Ich
spicke meine Texte ja auch nicht extra mit altmodischen Wörtern (lacht).
In einem aktuellen Text würde das auch zu gestelzt wirken. Sehr gern
verwende ich allerdings „hanebüchen“, die aktuelle Entsprechung wäre
haarsträubend. „Hanebüchen“ mag ich aber lieber, weil es für mich mehr
den Kern trifft. Rausredigiert werden tatsächlich eher moderne oder
Fremdwörter.
Was ist für Sie das Besondere an diesen Wortraritäten – sodass Sie diesen immerhin ein ganzes Buch widmen?
Abgesehen
davon, dass ich diese Wörter mag, weil sie sofort Bilder
transportieren, ist es einfach toll zu entdecken, welche Geschichte(n)
ein einzelnes Wort in sich trägt. Wir hatten übrigens lange Listen, über
denen wir lange gebrütet haben, um die Auswahl auf 100 für das Buch zu
beschränken. Letztlich ist es natürlich eine subjektive Auswahl von mir,
welche Wörter ich bewahrenswert finde – und zu denen es auch eine
kleine Geschichte zu erzählen gibt.
Saumselig, pomadig, wohlfeil – wohl kaum ein Schüler weiß
heute noch was mit diesen Adjektiven anzufangen. Dafür kennen sie andere
Wörter, von denen die ältere Generation nur Bahnhof verstehen. Finden
Sie das schade?
Es ist auf jeden Fall schade, dass bestimmte
Wörter nicht mehr benutzt werden, aber da will ich jetzt auch keine
Kampagne starten nach dem Motto „Jeder muss regelmäßig alte Wörter
benutzen – sonst sind die weg“. Denn das ist einfach so, das ist
Sprachwandel. Dass neue Wörter aus der Jugendsprache dazukommen finde
ich klasse und interessiere mich sehr dafür, wenn ich solche Ausdrücke
bei meinen Kindern höre. Dann frage ich sie dazu aus. Ich versuche
allerdings, die nicht alle selbst zu benutzen, denn das ist den Kindern
ja extrem peinlich. Aber Sprache schafft da ein großes
Zusammenhaltsgefühl für die Jugendlichen – das ist doch tausend Mal
besser, wenn das durch Sprache gelingt als durch Klamotten!
Sollte man also im Deutschunterricht nicht Wort-Raritäten zum Thema machen, sondern lieber Sprachwandel an sich thematisieren?
Hauptsache,
es wird viel gelesen. Und zwar neue und alte Texte. Ich finde, dass
sich Schüler schon auch durch alte Texte quälen und unbekannte Wörter
kennenlernen müssen. Ob sie die dann weiter benutzen oder nicht, ist
egal. Aber den Sinn dafür zu wecken, was es alles für Wörter gibt oder
gab, und warum es manche vielleicht nicht mehr gibt – da glaube ich
schon, dass man auch Teenager dafür interessieren kann.
Frohlocken, verbrämen oder piesacken Sie auch in der gesprochenen Sprache, im privaten Kontext?
Ich
glaube nicht so extrem, dass es jemandem auffällt. „Piesacken“ ist auf
jeden Fall in meinem aktiven Wortschatz, aber ich benutze – wirklich! –
nicht extra alte, seltsame Wörter.
Sterbende Wörter und ihre Bedeutung: Eine Auswahl
Wort | Bedeutung |
Backfisch | weiblicher Teenager |
Tausendsassa | vielseitig begabter Mensch, dem man Bewunderung zollt |
karriolen | herumfahren, unsinnig fahren |
saumselig | bei der Ausführung von etwas recht langsam sein, sich Zeit lassend |
piesacken | jemandem hartnäckig mit etwas zusetzen, jemanden (unaufhörlich) quälen, peinigen |
wohlfeil | billig, preiswert, abgedroschen, platt |
Fracksausen | Fracksausen haben oder kriegen = Angst haben, bekommen |
Zinnober | ein Quecksilber enthaltendes Mineral, leuchtend gelblich rote Farbe = wertloses Zeug oder Unsinn, dummes Zeug |
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