Schleswig | Täglich um Punkt 10.45 Uhr nach Weltzeit geschieht etwas, was aus dem All betrachtet ein echter Hingucker sein muss. An über 600 Orten auf der ganzen Erdkugel steigen riesige, weiße Ballons in den Himmel, die immer größer werden - so groß, dass ein Einfamilienhaus in jedem von ihnen Platz finden würde. Auch Schleswig-Holstein trägt mit einem Ballonstart zu diesem Luftspektakel bei, als einer von elf Standorten in Deutschland. Fünf Minuten vor der internationalen Startzeit rattert in Schleswig ein überdimensionales Garagentor nach oben und gibt den Blick auf den Wetterballon frei, der gerade mit Helium befüllt wurde. Birger Christiansen, Techniker vom Deutschen Wetterdienst, knotet ihn zu und fixiert eine kleine Box an dessen Ende - eine Radiosonde. Er geht ein paar Schritte nach draußen, hebt den Arm und lässt los. Blitzschnell steigt der Wetterballon in den knallblauen Schleswiger Winterhimmel.
„Dann wollen wir mal schauen, ob alles funktioniert", sagt Christiansen und eilt in sein Büro. „Flight in progress", steht auf dem Monitor. Die Sonde misst beim Aufstieg kontinuierlich Temperatur, Wind, Feuchtigkeit und Luftdruck und funkt die Daten an die Wetterstation am Boden. Sieben Minuten nach dem Start hat der Ballon eine Höhe von knapp zwei Kilometern erreicht, minus 12 Grad Celsius sind es da oben. „Bei etwa 30 Kilometern Höhe platzt er, dann bremst ein kleiner Fallschirm den Fall der Sonde ab, damit sie nicht irgendwo jemandem auf den Kopf fällt", sagt Christiansen. Meist landen die kleinen, weißen Kästen aber in der Ostsee, werden an stürmischen Tagen gern mal an den Strand gespült. Den nächsten Wetterballon lässt die Nachtschicht aufsteigen - um 23.45 Uhr Schleswiger Ortszeit.
Wetter ist immer, sollte man meinen. Heute ist es sogar mal besonders schön: Sonne, keine Wolke, ein prächtiger Wintertag. Doch für Matthias de Vries ist das „kein Wetter". Keine Wolken, kein Wind, kein Niederschlag - zum Gähnen langweilig, wenn man hauptberuflicher Wetterbeobachter ist. Im zweiten Stock des großen Backsteingebäudes liegt sein Büro. Wetter hat er im Blut, hält auch privat Vorträge. „Als Kanute bin ich viel draußen unterwegs und finde es hilfreich, die Wetterlage einschätzen zu können", sagt er.
Als er im Jahr 2000 seinen Job in der Wetterwarte Schleswig antrat, waren noch fast alle Büroräume besetzt. „40 Menschen haben hier mal gearbeitet", erinnert sich der Wetterdiensttechniker. Heute sind es noch sieben. Dutzende Büros stehen leer, nur das leise Dudeln eines Radios durchbricht die Stille auf den einsamen Fluren. „Meinen Berufszweig gibt es nicht mehr, alles wird automatisiert", erklärt er. „2019 ist hier Schluss. Das beschäftigt uns täglich."
183 Wetterstationen betreibt der Deutsche Wetterdienst in der Bundesrepublik, 30 davon sind rund um die Uhr besetzt. Noch. In Schleswig-Holstein ist Schleswig die letzte dieser Art. Weitere Wetterstationen gibt es in St. Peter-Ording und auf Fehmarn, allerdings ist dort nur noch stundenweise Personal anzutreffen. „Automaten lösen uns ab", drückt Matthias de Vries es aus. Das ist Teil der DWD-Strategie, die vorsieht, bis 2021 alle Wetterstationen vollautomatisch zu betreiben. Auch politische Einsparvorgaben nennt der Wetterdienst als Ursache.
Doch bis es soweit ist, kommt der Wetterwarte im Norden der Schlei noch eine besondere Funktion zu. Sie ist sogenannte Klimareferenzstation, das heißt: Alte, herkömmliche Verfahren der Wettermessung - zum Beispiel das Quecksilber-Thermometer - sind hier parallel mit neuen, sensorischen Techniken im Einsatz. So soll sichergestellt werden, dass durch den Wechsel keine Sprünge in der Langzeitmessung entstehen.
„Die alten Methoden waren nicht schlechter" ist ein Satz, der hier häufig fällt. Vor allem in das eigene Paar Augen setzen die Wetterbeobachter großes Vertrauen. „Eine ankriechende Nebelbank kriegt so ein Gerät nicht so schnell mit", sagt de Vries. Und was die Sichtweite angeht, greife man gern auf die konventionelle Methodik zurück: Auf einer Wandkarte sind die Entfernungen zu hohen Gebäuden in der Umgebung verzeichnet. Sieht man den Turm des Schleswiger Doms, sind es mindestens 2000 Meter. „Die modernen Instrumente arbeiten mit Laserstrahlen oder Ultraschallsensoren - und dann kommen die Vögel oder Spinnen und verfälschen die Ergebnisse. Da nützt selbst die tollste Technik nichts."
Um ein traditionelles Messgerät zu bedienen, muss Matthias de Vries den Turm der Wetterwarte erklimmen. Von dort oben hat man nicht nur einen herrlichen Blick über die Schlei, sondern auch uneingeschränkte Himmelseinsicht. Auf dem Geländer glitzert eine Glaskugel, hinter der ein Papierstreifen mit einer Zeitskala eingespannt ist - ein „Sonnenscheinautograph". Die Sonne brennt nach den Gesetzen der Physik Punkte, die eine Linie ergeben, ins Papier - wenn sie denn scheint. „Alles, was man hier machen muss, ist morgens das Papier wechseln. Ansonsten läuft alles von selbst, ganz ohne Strom", schwärmt de Vries. „Galaktisch gut, oder?"
Im Erdgeschoss zeugt ein großer metallener Bundesadler vom hochoffiziellen Status dieser Einrichtung: Der DWD ist eine Bundesbehörde und untersteht dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. Es gibt sogar ein DWD-Gesetz. Das benennt unter anderem die wichtige Aufgabe, amtliche Warnungen über Wettererscheinungen herauszugeben. „Wetterbeobachtung dient immer zur Vorhersage", erklärt Matthias de Vries. „Deren Qualität soll ständig verbessert werden." Für einen Zeitraum von sieben Tagen lasse sich mit heutiger Methodik eine taugliche Prognose erstellen. Darüber hinaus sei es gerade für Norddeutschland schwierig, das Wetter vorherzusagen. „Wir leben in einer Westwinddrift und damit in einer ständigen Anreihung von Tiefdruckgebieten. Deshalb wechselt das Wetter bei uns sehr schnell."
Ein bisschen ist Matthias de Vries auch Botaniker. Einerseits, weil er sich für Pflanzen interessiert, andererseits, weil zu den Aufgaben des DWD auch sogenannte phänologische Beobachtungen gehören, also die Entwicklung der Pflanzen im Jahresablauf. Wenn er über das Außengelände der Wetterstation streift, macht er das nicht in erster Linie, um frische Luft zu schnappen. Er schaut nach Schneeglöckchen, Hasel, Zaubernuss, Sauerkirsche, Forsythie oder dem Klarapfelbaum. „Das sind alles Zeigerpflanzen, die weltweit in Vergleichsgärten angepflanzt werden", erklärt de Vries.
In seinem Notizbuch vermerkt er bei seinen wöchentlichen Rundgängen die Veränderungen an den Bäumen, Sträuchern und Blumen. „Blühen deine Schneeglöckchen schon?", fragt ein Kollege. „Ach, schon lange", antwortet de Vries. „Seine" Pflanzen, das merkt man schnell, sind ihm eine Herzensangelegenheit. Zunehmend werden phänologische Daten auch für Trendanalysen zur Klimadiagnostik genutzt. „Der phänologische Winter war früher viel länger als heute. Die Pflanze merkt, dass sie mittlerweile viel eher anfangen kann, ihre Blätter zu entfalten." Die gelben, länglichen Blüten der Hasel, die er gerade zwischen den Fingern hält, hätte er vor 30 Jahren Mitte Februar noch lange nicht sehen können. Und wer macht diese Beobachtungen, wenn Automaten die Wetterstationen bedienen? „Gute Frage. Das kann sicher keine Maschine."
von Merle Bornemann erstellt am 28.Feb.2016 | 17:14 Uhr