LEUTE - Abwassermeisterin ist ein schwieriger Job, aber Regine Labenda hat ihren Traumberuf gefunden.
REUTLINGEN-OFERDINGEN. Schilder warnen an mannshohen Zäunen: Betreten verboten, Lebensgefahr. Also klingeln, eine Männerstimme knirscht durch die Sprechanlage, dann gibt das eiserne Eingangstor scheppernd den Weg frei. Vor den Füßen liegt eine Welt aus Beton und Bakterien. Willkommen auf der Kläranlage Nord in Reutlingen, Willkommen im Revier von Regine Labenda.
Geteerte Flächen verbinden Betonbecken mit Betontürmen. Unter dem blassen Himmel verschmelzen sie zu grauem Brei. Maschinen hämmern rhythmisch. Kälte beißt in die Haut, es riecht nach feuchten Straßen. Kein Mensch weit und breit. Nur geparkte Autos und bepflanzte Blumenkübel weisen den Weg zum Verwaltungsgebäude.
"Frau Labenda kommt gleich", ruft ein Mann in blauer Latzhose. Die Tür zu ihrem Büro steht offen. Drinnen drängen sich vor der Fensterfront ein Dutzend Zimmerpflanzen, dahinter: ein Blick auf das Vorklärbecken und die biologische Phosphatanlage. Auf dem Schreibtisch, lang wie eine Bierbank, stapelt sich Papier neben einem Aschenbecher. Im Hintergrund ein Schrank Aktenordner. In einer Ecke liegt eine zerwühlte Hundedecke, daneben ein leerer Napf. An der Wand ein Cosmopolitan-Kalender, ein Männermodel posiert in Unterhose.
Plötzlich steht eine Frau in einer engen, ausgefransten Schlaghose im Raum. "Sorry", entschuldigt sie sich mit festem Händedruck. Sie trägt Wanderschuhe, eine Fleecejacke über Rollkragenpulli und breiten Schultern. Im kastanienbraunen, schulterlangen Haar schimmern graue Strähnen. "Kaffee?", fragt sie, während sie die Treppen in den Besprechungsraum hochläuft.
Regine Labenda, 51, Meisterin der Abwassertechnik, ist seit gut zehn Jahren Chefin von sieben Mitarbeitern und einem Auszubildenden. "Meine Männer", sagt sie liebevoll. Ihre Männer nennen sie "Frau Labenda". Gemeinsam reinigen sie das Schmutzwasser von fast achtzigtausend Menschen aus acht Reutlinger Stadtbezirken und der Gemeinde Pliezhausen. Pro Minute ergießen sich in Spitzenzeiten bis zu 29 000 Liter in die Anlage des Klärwerks, dort, wo sechs Millimeter feine Rechen sogenannte Grobstoffe auskämmen. Windeln, Zigarettenkippen, Hühnerknochen, Tampons, Spritzen. Hier riecht es nach dampfenden Hundehaufen, Durchfall und faulenden Damenbinden. Luft holen durch die Nase zieht die Kehle zu, nicht würgen, besser flach atmen. Regine Labenda sagt, sie könne die Herkunft des Abwassers an der Farbe erkennen. Pures Abwasser ist sandfarben, ein bisschen wie Urin, ockergelb. Wenn es regnet, eher grün, Abwasser aus Pliezhausen ist knallrot.
Manchmal schwemmen die hundert Kilometer langen Adern der Kanalisation auch einen Norwegerpulli an. Frau Labenda überrascht das nicht. Auch sie wurde damals irgendwie ins Klärwerk gespült. Eigentlich wollte sie Kinder betreuen, statt Kacke klären. Am Ende ihrer Ausbildung stand die Erzieherin auf der Straße, Dutzende Frauen rissen sich um eine Stelle. Sie machte lieber Fachabitur, um anschließend Biotechnologie zu studieren, doch die Uni schickte statt einer Zulassung eine Liste mit Praktika-Plätzen. Darunter: ein halbes Jahr Klärwerk im Stadtteil Betzingen. Aus einem halben Jahr wurde ein ganzes, aus dem Praktikum eine Ausbildung, ehe sie im Klärwerk Nord in Oferdingen ihren Job begann. "Ver- und Entsorger" hieß es damals. So fand Frau Labenda ihr Glück im Klärwerk statt im Kindergarten. "Ich hab's nie bereut", sagt sie.
Während sie erzählt, umfassen ihre Hände eine Tasse groß wie ein Bierkrug. Sie erinnert sich an ihren ersten Durchfall, Magen-Darm, ganz normal, das gehört dazu beim Start in diesen Beruf. Zu viele Krankheitserreger schlummern auf einer Kläranlage. Irgendwann sei man immun, abgehärteter als Otto-Normal. Für alles andere gibt's Impfschutz, den zahlt die Stadt: Hepatitis, Tetanus, Polio, alles ein Muss. Sie weiß, warum. "Einmal hab' ich mit 'nem Stab in die Schlammmasse einer verstopften Leitung gestochen ... Bumbum hat's gemacht und das Zeug hat sich über mich ergossen." Wem so etwas noch nie passiert ist, der gehört nicht richtig dazu.
Um keinen Erreger nach draußen zu schleppen, wird am Ende des Arbeitstages geduscht. "Als einzige Frau hab' ich eine für mich allein, meine Männer müssen teilen". Sie grinst.
Eklig hat sie ihren Job nie gefunden. Auch neue Bekanntschaften begegnen ihr mit Respekt und Erstaunen. Schwerer haben es die jungen Auszubildenden. "Gleichaltrige rümpfen manchmal die Nase", erzählt sie. Dabei sei der Job doch so abwechslungsreich. Das Zusammenspiel aus Biologie, Chemie und Technik, das ist das Besondere. Spannend, komplex, und vor allem: so wichtig. Dass ihr Beruf dennoch ein Schattendasein fristet, das stört sie nicht. Sie zuckt die Schultern. Auch sie hat sich früher keine Gedanken darüber gemacht, was mit ihrem Schmutzwasser passiert. Jetzt weiß sie alles. Dass ihr Klärwerk am Tag so viel Strom verbraucht wie ein Vier-Personen-Haushalt im ganzen Jahr, und dass am Ende der etwa 24 Stunden dauernden Prozedur das Wasser zu 99 Prozent gereinigt wieder in den Neckar fließt. Erst Richtung Ludwigshafen und von dort in den Rhein. Das Klärwerk läuft, von einem Computer gesteuert, voll automatisiert, doch Chefin Labenda bestand beim Umbau der Anlage darauf, die Maschinen zur Not "von Hand fahren" zu können. Man kann ja nie wissen.
Vor dem Computerzeitalter musste immer jemand die Anlage im Blick haben. 24 Stunden, an 365 Tagen im Jahr. Früher standen deshalb Wohnhäuschen auf dem Gelände. Heute geht die normale Schicht von 6.30 bis 15.45 Uhr. Heute alarmiert der Computer per Anruf den diensthabenden Mitarbeiter, wenn ein Gebläse stillsteht, eine Pumpe versagt. An Silvester dieses Jahres war ein 10 000 Volt-Transformator explodiert, die Rufbereitschaft musste anrücken, Feier zu Ende.
Manchmal lösen verstopfe Pumpen Alarm aus, schuld sind oft verklumpte Feuchttücher - Labendas größtes Ärgernis. Sie schimpft. "Die Kläranlage kriegt auch 'n Schnitzel weg, des is' der völlig wurscht." Aber dieses feuchte Luxusklopapier! Reißfest, darauf ausgelegt, sich nicht aufzulösen, einfach genial.
Sie hält inne, verblüfft vom eigenen Eifer. Grinst. Holt den letzten Schluck Kaffee aus der Tiefe ihrer Tasse und sagt: "Reicht denn nicht vierlagiges Klopapier, was wollen wir denn noch." (GEA)