Die Krankheit kam über Nacht: Plötzlich reagierte ihr Körper hochempfindlich auf Waschmittel, Textilien, Baustoffe, Gase, Stromleitungen, Wlan, Kunstharze. Die Geschichte einer Frau und ihrer endlosen Flucht.
Stuttgart - Maria Frühlings altes Leben endet vor 15 Jahren in ihrer Stuttgarter Wohnung, mitten in der Nacht. Sie wacht auf, weil ihr Herz rast, ihre Lunge brennt und ihre Zunge langsam zu einem Ballon anschwillt. Senkrecht sitzt sie im Bett und schnappt nach Luft. Das Schlafzimmer fühlt sich an wie mit Gift übergossen. Erst in der Küche spürt sie wieder Atem in der Lunge. Die erste Nacht ihres neuen Lebens verbringt sie, hellwach in einem Sessel sitzend, zwischen Spülmaschine und Kühlschrank.
Maria Frühling heißt eigentlich anders. Aus Angst vor Anfeindungen möchte sie ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Der Name, unter dem sie ihre Geschichte erzählen will, fällt ihr spontan ein. Vielleicht, weil Frühling die Jahreszeit des Wandels ist und zu ihrem Schicksal passt. Vielleicht, weil sie Poesie und Literatur liebt und ihre Bücher mit das Einzige sind, das ihr aus dem alten Leben geblieben ist.
Die Krankheit, die sie aus dem Schlaf riss, heißt MCS, Multiple Chemikaliensensibilität. Eine dauernde Überempfindlichkeit auf Duftstoffe, Zigarettenrauch, Textilien, Baustoffe, Waschmittel, Gase. Eine Krankheit, die sich wie ein unsichtbarer Feind langsam in ihr Leben schlich, um eines Nachts mit aller Macht zuzuschlagen.
Es gab Vorzeichen. Schon während ihrer Zeit als Krankenschwester reagierte sie mit jedem Berufsjahr empfindlicher auf das Desinfektionsmittel, mit dem sie ihre Hände wusch. Der Geruch schnürte ihr die Kehle zu, sie bekam Bauchkrämpfe, litt unter Erschöpfung. Ihre Ärzte suchten nach Ursachen, machten Blutbilder, aber fanden nichts. Maria Frühling war krank ohne Diagnose.
Sie musste ihre Arbeit reduzieren, erst auf 75, dann auf 50, später auf 25 Prozent, bis sie mit 60 Jahren in Rente ging. Es sollte ein neuer Lebensabschnitt werden mit viel Zeit für ihren Mann, ihre Enkel und ihre Bücher - bis zu jener Nacht.
Am Morgen sagt sie zu ihrem Mann, dass sie es in der Wohnung nicht mehr aushalte. Sie packt das Nötigste und fährt zu ihrer Tochter. Zwei Wochen schläft sie im Badezimmer auf dem gefliesten Boden. Danach verbringt sie einige Nächte mit ihrem Mann in einem Hotel, das sie gut verträgt. Nachts liegt sie meist wach. Tagsüber kann sie nicht mehr ruhig sitzen, geht planlos durch die Straßen, läuft Kreise im Wartezimmer wie ein in die Enge getriebenes Tier. Als sie verzweifelt vor dem Schreibtisch ihres Arztes steht, reagiert er ratlos. Er kennt Maria Frühling als lebenslustige Frau und nimmt ihre Verwandlung ernst. „Ich sehe, Sie sind schwer krank, aber ich kann Ihnen nicht helfen."
Maria Frühling flüchtet zu ihrer Schwester in ein frei stehendes Einfamilienhaus. Auch dort hält sie es nur draußen aus, schläft auf einer Liege im Garten. Eingewickelt in eine goldsilberne Rettungsdecke, schaut sie in den Sommerhimmel und hofft, dass der Albtraum zu Ende geht.
Im Internet sucht sie nach Umweltkrankheiten, weil sie längst ahnt, dass ihr unsichtbares Übel irgendwo dort zu finden ist. Sie stößt auf eine Selbsthilfegruppe und bekommt endlich Antworten. „Sie leiden unter MCS", schreiben Betroffene. Maria Frühling kann es nicht fassen, dass ihre Krankheit doch einen Namen hat.
Sie empfehlen ihr einen Umweltmediziner, der ihr schließlich Gewissheit schafft. In einem erweiterten Bluttest weist er eine Vergiftung durch Quecksilber, Zinn, Palladium, Cadmium, Nickel und Chrom nach. Solche Schwermetalle stecken unter anderem in Amalgam-Füllungen von Zahnkronen und lagern sich im Kiefer ab.
In den nächsten Jahren werden Maria Frühling immer wieder Zähne gezogen. Sie steckt sich in jedes neue Loch eine Tamponade, die das Wundsekret aufsaugt. So sollen die Metalle langsam aus ihrem Kiefer abfließen. Sie fährt einmal in der Woche zum Zahnarzt, der ihr das Loch wieder aufbohrt, damit das Sekret weiter fließt. Sie lässt ein Loch erst dann verheilen, wenn in der Tamponade kaum mehr Metalle nachgewiesen werden. Dann lässt sie sich den nächsten Zahn ziehen.
Der Umweltmediziner erklärt ihr, dass bei MCS-Kranken das Entgiftungssystem nicht funktioniere. Wo das Immunsystem gesunder Menschen mit der Flut chemischer Stoffe locker fertig werde, kapituliere ihres. Die Giftstoffe lagern sich im Fett- und im Bindegewebe, in der Leber und der Niere ab. Um ihr Immunsystem zu unterstützen, schluckt Maria Frühling Vitamin B12, B6, D3, C, E, Coenzym Q10, Magnesium, Folsäure, Taurin, Ebselen, Glutathion.
Maria Frühling möchte ihrer Schwester nicht mehr zu Last fallen, und sie vermisst ihr Zuhause und ihren Mann. Sie fährt zurück. Kaum steht sie in der Haustür, fühlt sich ihr Körper an, als würde darin eine Bombe einschlagen. Das Ehepaar beschließt, die Wohnung komplett zu sanieren. Handwerker kratzen Tapeten runter, reißen Böden raus, machen jedes Zimmer neu außer Küche und Bad. Maria Frühling flüchtet für einige Wochen ins Allgäu.
Was sie nicht krank macht, darf in die Wohnung
Neue Baustoffe muss sie erst testen. Sie trägt Musterstücke von Ökoböden mit sich herum, Tapetenstreifen mit Biofarbe. Was sie nicht krank macht, darf in die Wohnung. Das Ehepaar verbaut ein Vermögen. Es verkauft ein Sofa, Regale, Schränke, verschenkt Hunderte Bücher, für die es keinen Stauraum mehr gibt. Lesen kann Maria Frühling nicht mehr, weil sie heftig auf die Druckfarbengemische aus Kunstharz, Toluol und Trockenstoffe reagiert. Mit ihren Romanen und Möbeln wird ihr altes Leben aus dem Haus getragen.
Ihre Wohnung ist eine Baustelle. Tagsüber sitzt sie auf einem Hocker in der Küche. Sie schläft auf dem Balkon, bis selbst die Rettungsdecke sie nicht mehr gegen die Kälte schützen kann. Die Winternächte verbringt Maria Frühling in ihrem leer geräumten Schlafzimmer. Auf einem Tisch, der komplett mit Alufolie verkleidet ist, schläft sie vor dem offenen Fenster. Sie trägt Schal, Mütze, Handschuhe aus Biobaumwolle. Ihr Rücken ist voller blauer Flecken. „Ich hab mir die Wirbelsäule versaut“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. „Ich hatte ja keine Wahl.“ Zehn Jahre verbringt sie ihre Nächte auf diesem Tisch.
Nach Monaten stellen sich kleine Erfolge ein. Der Flur ist inzwischen fertig renoviert, einige Stunden am Tag hält sie es dort beschwerdefrei aus. Ihr Mann kauft ihnen zwei unbehandelte Vollholzsessel und schiebt den Fernseher in den Gang. Gemeinsam sitzen sie abends händchenhaltend vor dem Bildschirm und genießen ihr kleines Glück auf fünf Quadratmetern.
Nach langer Zeit hält sie wieder ein Buch in den Händen: „Das verborgene Wort“ von Ulla Hahn. An den Moment erinnert sie sich genau. Sie legt durchsichtiges Zellophanpapier auf die Seite, um keine Stoffe einzuatmen, und jedes Wort, das sie liest, haucht ihr neues Leben ein. „Dieses Gefühl von Glück kann ich nicht beschreiben.“ Auch für Hilde, die Heldin des Romans, werden Bücher zur Rettungsinsel. Nichts versteht Maria Frühling besser.
Heute liest die 73-Jährige ihre Romane nicht mehr durch eine Folie, auch das ist besser geworden. Sie lebt in einer Zweizimmerwohnung am Rande eines Wohngebietes außerhalb der Großstadt. Baubiologen haben ihr die Wohnung so eingerichtet, dass sie darin leben kann. Ihre kleine Bibliothek liegt luftdicht verschlossen in Alukisten. Das wenige, was sie aus ihrem alten Leben mitnehmen konnte, steht in einem Glasschrank: Bilder lächelnder Familienmitglieder. Ihr Mann ist gestorben.
Vor Jahren schon hat sie sich räumlich vom ihm trennen müssen. Trotz aller Renovierung hielt sie es in der Wohnung nicht mehr aus. Stundenweise besuchte sie ihn in der Stadt, er kochte, und sie aßen auf dem Balkon, bis sie dann wieder fuhr. Ihre Krankheit drängt sie auch räumlich an den Rand der Gesellschaft. Betroffene werden oft für Hypochonder oder Spinner gehalten. Maria Frühling sagt, viele würden plötzlich von Freunden gemieden. „Mich hält zum Glück keiner für verrückt. Meine Freunde, meine Familie, alle glauben mir.“ Sie alle wüssten, dass sie vor jener Nacht eine ganz normale Frau war.
Die Weltgesundheitsorganisation klassifiziert MCS unter „Schäden aufgrund psychosozialer Umstände“ und den Code ICD-10 T78.4, eine „nicht näher bezeichnete Allergie“. Das Sozialgericht Mainz entschied Anfang dieses Jahres: die Chemikalien-Unverträglichkeit kann keiner Berufskrankheit zugeordnet werden. Maria Frühling ist froh, es bis zur Rente geschafft zu haben. „Jüngere leben von Hartz IV.“
Ihren Besuch muss sie bitten, kein Deo zu benutzen
Seit Maria Frühling auch empfindlich auf elektromagnetische Strahlung reagiert, auf Smartphones, Wlan oder Hochspannungsleitungen, ist ihr das Leben noch mehr entrückt. Viele MCS-Kranke sind auch elektrosensibel. Ihren Besuch muss sie jetzt nicht nur bitten, kein Deo zu benutzen und keine mit Weichspüler gewaschenen Kleider zu tragen, sondern auch, das Smartphone auszuschalten.
Wenn Maria Frühling in der Stadtbahn sitzt und jemand sein Handy aus der Tasche holt, geht es bei ihr an den Füßen los. Dann kribbelt es in den Beinen, bitzelt im Bauch, brutzelt im Kopf. „Das ist wie gegrillt werden“, sagt sie. Als lade sich der Körper auf wie eine Batterie. Das Gleiche bei Wlan. Wenn die Nachbarn ihren Router einschalten, um ins Internet zu gehen, zieht sich Maria Frühling Abschirmkleider an: eine lange Hose, die ihr bis über die Zehen reicht, Pulli, Schal und manchmal auch ein Tuch um den Kopf. Sie sind aus einem Spezialstoff, in den Silberfäden gewoben sind und der elektromagnetische Wellen zwischen 200 MHz und 2,4 GHz zu 98 Prozent abschirmt. Wer das nicht weiß, sieht einfach nur eine kleine Frau, die ein blasses Beige trägt. Vollständig schützen kann sie die Kleidung trotzdem nicht. „Manchmal“, sagt sie, „fühle ich mich wie ein gejagtes Tier.“ Für die Nächte hat sie sich eine Art Faraday’schen Käfig bauen lassen, der sie elektrisch abschirmt. Lachsrosa glitzert ihr Häuschen, wie sie es nennt. Die Wände bestehen aus einem Vorhang aus feinen versilberten Kupferfäden. Die Hochfrequenzwellen werden über eine Bodenmatte abgeleitet.
Maria Frühling sagt, ihr gehe es vergleichsweise gut. Andere Betroffene würden im Keller, in der Garage, im Wohnwagen oder im Wald leben. Angst habe sie trotzdem, auch vor dem Alter. Es gebe keine Seniorenheime, die auf MCS-Kranke oder elektrosensible Menschen eingestellt seien, sagt sie. Wo soll sie hin, wenn sie nicht mehr für sich selbst sorgen kann?
Sie hat grauen Star, das Lesen wird immer mühsamer für sie. Eigentlich sollte sie ihre Netzhaut operieren lassen – wären da nur nicht die Desinfektionsmittel, die Wlan-Strahlen, die Medikamente, die Anästhesie, die MCS-Kranke nicht vertragen. „Wenn das Lesen nicht mehr geht, dann hätte ich wirklich das Gefühl, ich kann nicht mehr leben“, sagt sie. Mit ihrem Schicksal möchte sie aber nicht hadern. Es sei jetzt nun mal so, und sie frage sich auch nicht, warum. „Das Leben ist ein Würfelspiel und mich hat’s eben getroffen.“
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