Von Maya-Katharina Schulz (01.08.2023)
In einen Gelenkbus (umgangssprachlich auch „Ziehharmonikabus", „Schlenker" oder - ihr lest richtig - „Schlenki" genannt) passen laut der Bürgerinitiative „ Pro Citybahn " in Wiesbaden durchschnittlich 100 Menschen. Dieser Gedanke schießt mir durch den Kopf, als ich um 7:35 Uhr an diesem dunklen Montagmorgen im November auf den 671er warte, um die Reise nach Dieburg anzutreten.
In Zeiten wie diesen, in denen man schneller einen Therapieplatz bekommt, wenn man sich in einen beliebigen NC-freien Studiengang an Uni XY einschreibt und sich dann auf die halbjährige Warteliste für die psychologische Beratung des Studiwerks setzt, als über das herkömmliche Therapeut*innen-Abklappern (gern geschehen für den Tipp an dieser Stelle), sind wir das Warten gewohnt. Trotzdem werde ich nervös, als ich überschlage, wie viele Mitstudierende hier wohl mit mir warten. Mit ihren h_da-Rucksäcken sind sie auch für Laien sofort als Mediencampus-Pilger*innen zu erkennen. Aber wie sollen wir alle in den Schlenki passen, wenn es nur 100 Plätze gibt? Am Mediencampus in Dieburg studieren laut Webseite der H_da etwa 3.400 Menschen. Die Kalkulation: Zwei 671er, die zwischen sieben und acht Uhr morgens von Darmstadt nach Dieburg fahren, um die frühen Vögel an ihr Ziel zu bringen, erscheint angesichts dieser Zahl recht optimistisch. Aber bisher ist es ja auch immer gut gegangen, denke ich mir, während ich weiter warte.
7:46 Uhr. Mit jeder verstreichenden Minute werde ich nervöser. Beide Schlenkis (Schlenken? Schlenkini?) sind verspätet, sowohl die Schnellbus-Variante, die ihr Ziel in flotten 30 Minuten erreicht, als auch die etwas gemütlichere 672er-Alternative, die mit ihren neun zusätzlichen Zwischenhalten etwa zehn Minuten länger braucht, und am Ende je nach Uhrzeit auch noch einen 700-Meter-langen Fußmarsch von der Haltestelle „Kirche" bis zum Campus ermöglicht. Perfekt für alle, die eine kleine Wanderung am Morgen brauchen, um so richtig wach zu werden! Angespannt lade ich die RMV-App zum zwölften Mal neu.
Ein erleichtertes „Aaaahh" geht durch die Menschenmenge, die sich mittlerweile auf dem Lui versammelt hat, als der Schlenki nun doch endlich in Sicht kommt. Auch ich atme beruhigt auf. Doch mir bleibt nicht viel Zeit, das Gefühl zu genießen: Die Versammelten nehmen bereits ihre Startposition zum Sprint ein. Auch ich mache mich bereit und setze, als sich die Bustüren zischend öffnen, zu einem katzengleichen Hechtsprung an, gegen den jeder frei in Berlin herumlaufende Löwe abstinken würde. Ich schubse eine alte Frau aus dem Weg, die versucht, mit ihrem Gehwägelchen aus dem Bus zu steigen, weiche einem Kinderwagen aus und springe mit einem Satz auf den allerletzten freien Sitz, den ich noch sehe. Dem Himmel sei Dank: Ich sitze. Schwer atmend und völlig aus der Puste bemühe ich mich, ein schadenfrohes Grinsen zu unterdrücken, als ich sehe, wie sich Studierende im hinteren Teil des Busses wie Ölsardinen aufreihen, um die sechs-bis-sieben-Personen-pro-Quadratmeter-Grenze so sehr wie möglich auszureizen.
Kaum hat die letzte Person ihren Fuß in den Schlenki gesetzt, geht es auch schon los. Ich ducke mich unter einem vorbeifliegenden Handy hinweg, das seiner Besitzerin durch das plötzliche Anfahren aus der Hand gerissen wurde, und schließe die Augen, um ein wenig Schlaf nachzuholen. „Jugendstilbad" und „Woog. Elisabethenstift", spreche ich die Busansage in Gedanken mit. Doch plötzlich werde ich durch ein lautes Poltern aus meinem schläfrigen Zustand geweckt. Es war die Stimme des Busfahrers, der sich über die Sprechanlage gemeldet hat. Mein Blick wandert wild umher, und schon sehe ich ihn, den Grund für den Aufruhr: Der Student läuft knallrot an und lässt das Käsebrot in seiner Jackentasche verschwinden. Um die Gefahren, die von einem Käsebrot ausgehen können, spinnt sich eine der-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf-artige Geheimnistuerei. Niemand weiß so genau, was diese Gefahren so genau sind, doch sie müssen so fürchterlich sein, dass man nicht darüber spricht. Ein betretenes Schweigen tritt ein, als der Fahrer nach überstandenem Käsebrot-Zwischenfall wieder beschleunigt.
Eines muss man ihm lassen: Er gibt wirklich alles, um unsere zehn Minuten Verspätung wieder aufzuholen. Dabei setzt er sich sowohl über die ja ohnehin eher als Rangiervorschlag geltende StVO als auch über die Studierenden hinweg, die die Geschwindigkeit nicht gewohnt sind und daher noch einmal rückwärts frühstücken. Zufrieden genieße ich das Gefühl, durch die Beschleunigung tief in den Sitz gedrückt zu werden. Da fällt der Verzicht aufs Fliegen (und Urlaub generell) doch total leicht! Es ist ein schönes Gefühl, dass sogar das Buspersonal so viel auf sich nimmt, damit wir pünktlich in der Uni ankommen. Ich fühle mich gut aufgehoben und angesichts der steigenden Temperatur und Luftfeuchtigkeit auch auf wohlige Art und Weise geborgen. Ich betrachte das Kondenswasser, das am Innern der Fensterscheibe herunterrinnt und frage mich, ob es nicht effektiver wäre, sich im Bus ganz einfach zu stapeln. Hat es bei Wetten, dass...? nicht mal so ein Experiment gegeben?
Ich werfe dem Käsebrot-Kommilitonen einen neidvollen Blick zu. Wenigstens hat er ein Frühstück in der Tasche. Ich lege den Kopf schief, um die Zeiger der Armbanduhr des Mädchens, das mir am nächsten steht, erkennen zu können - denn es ist zu eng, um zu diesem Zweck das Handy aus der Jackentasche zu ziehen. Besorgt überschlage ich im Kopf, ob ich es noch schaffen werde, mir vor Vorlesungsbeginn ein Brötchen oder alternativ auch eine Packung Salzstangen aus dem Netto zu holen. Ich muss dringend etwas essen.
„Nächste Station: Römerhalle", verkündet die Ansagestimme. Römerhalle, Mhhh, wie gut wäre jetzt ein Römersalat... Was haben die Römer überhaupt gegessen? Feta vielleicht? Gab es zur Zeit der Römer schon Feta? Wie wird Feta überhaupt gemacht? Wird es irgendwem negativ auffallen, wenn ich mir bei Netto einen Feta hole und ihn während der Vorlesung verzehre? Mein leerer Magen und der Sauerstoffmangel lassen mich seltsame Gedankenketten denken.
Ein Blick auf die meterlange Schlange vor dem Café Zeitraum, und ich weiß, dass es heute kein Frühstück für mich geben wird. „Ach, wie schön ist es, Studentin zu sein", ist mein letzter Gedanke, als ich mit zittrigen Knien das Gebäude betrete.