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Selbstverletzung: Durch meine Narben fühlte ich mich weniger männlich

Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung nehmen Gefühle wie Wut oder Trauer intensiver wahr. Ich war damit überfordert und verletzte mich selbst.


Hätte ich doch nur in die Wand geboxt. Boxen ist männlich. Stattdessen lege ich die Rasierklinge weg, setze mich auf den Boden des Balkons, reiße das letzte Stück Papier von der Küchenrolle. Es brennt, als der Stoff die Wunde berührt. Muss das genäht werden? Ich habe die Schnitte parallel auf meinen Oberschenkeln platziert, präzise wie ein Bauzeichner. Alle werden kapieren, dass das kein Unfall war. Wie erkläre ich das bloß meinen Eltern, Freunden, dem Hausarzt, der Fußballmannschaft?

Vier Jahre lang ging das so. Vier Jahre lang habe ich mich selbst verletzt. Ich leide an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Menschen mit BPS nehmen Gefühle wie Wut, Trauer, aber auch Freude extrem intensiv wahr. Damit sind sie teilweise überfordert. Zu welchem Verhalten das führt, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Manche verletzen sich selbst, so wie ich.

Als ich mich mit 20 Jahren das erste Mal selbst verletzte und mich mein Mitbewohner auf dem Balkon fand, zeigte ich ihm und meinem Umfeld, dass es mir nicht gut geht. Alle waren verblüfft. Einer meiner Schnitte musste genäht werden. Während mir die Krankenschwester mit besorgtem Blick die Betäubungsspritze in die Wunde jagte, fühlte ich mich so unmännlich wie noch nie. So entstellt, so ohne Kontrolle. Tyler Durden, der von Brad Pitt gespielte Haudrauf-Mann aus Fight Club, würde sagen: Ich war am Nullpunkt angelangt. Ich hatte mich selbst mit einem Messer zugerichtet. Das machen doch nur Teenie-Mädchen, dachte ich damals, Mädels, die sich Texte von My Chemical Romance auf ihre schwarzen Converse schreiben. Doch bei mir war das anders. Als ich anfing, mich zu verletzen, war ich 20 Jahre alt und ein mehr oder weniger erwachsener Mann. Was ich mir da antat, ergab keinen Sinn.


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