Lukasz Piszczek verlässt Borussia Dortmund. Mit seinem Weggang endet nicht nur eine großartige Zeit, sondern auch eine Sehnsucht. Vielleicht ist das für den Verein der Anfang einer neuen Zeitrechnung.
Den Fans von Borussia Dortmund wird häufig nachgesagt, sie würden in den Jahren zwischen 2011 und 2013 festhängen. Dass sie sich von dieser berauschenden Zeit mit zwei Meisterschaften, dem Double und dem Champions-League-Finale nicht absondern könnten. Sie würden einer Illusion hinterherjagen. Einer, in der es irgendwann doch noch einmal so sein wird, wie damals, als Jürgen Klopp mit Pöhler-Kappe auf der Bank und Lucas Barrios auf dem Querbalken saß, Neven Subotic auf Autodächern durchs Kreuzviertel tanzte und Kevin Großkreutz sich die Rübe rasieren ließ.
Nun, fast ein Jahrzehnt später, darf damit endgültig abgeschlossen werden. Denn mit Lukasz Piszczek geht der letzte verbliebene aus der Mannschaft der frühen 10er Jahre. Mats Hummels und Marcel Schmelzer bewusst ausgenommen. Der eine, weil er wegen seines dreijährigen Bayernaussetzers nicht mehr so recht dazuzählt und der andere, weil er sportlich seit Jahren keine Rolle mehr spielt.
Es war Lukasz Piszczek, der als letztes Inventarteilchen die Sehnsucht an etwas aufrechterhalten hatte, was längst verflüchtigt war. Eine letzte Projektionsfläche für all die Nostalgie. „Er verkörpert alles, was den BVB auszeichnet und für was der BVB stehen soll", sagte sogar Thomas Tuchel.
Dabei ist der inzwischen 35 Jahre alte Pole gar keine handelsübliche Projektionsfläche. Einerseits, weil Außenverteidiger in der Regel eher unsexy sind. Andererseits auch, weil Piszczek in seinen elf Jahren in Schwarzgelb selbst kein sofort erkenntliches Projektionsmaterial geliefert hat. Weder auf noch neben dem Platz. Er wird nicht mit Monstergrätschen in Erinnerung bleiben, nicht mit bahnbrechenden Worten, nicht mit entscheidenden Toren und auch nicht mit gewaltigen Gesten. Will man einen Abzug seiner Karriere entwickeln, es entstünde kein monumentales Bild.
Doch Lukasz Piszczek verkörperte bis zuletzt ein Selbstverständnis, weil er ein Versprechen gegeben hatte: Es gab für ihn nur Dortmund. Piszczek hatte sich verliebt, als er 2010 aus Berlin zur Borussia kam. Plötzlich und unkritisch. Daher dürften seine Tränen nach dem Pokalfinale eine ganze Stadt noch einmal kollektiv erinnert haben. Daran, dass in diesem modernen, aufgetunten Sport eben noch nicht alles verloren ist. Solange es noch einen Lukasz Piszczek gibt, ist Fußball immer noch wichtig.
Dass erst jetzt Schluss für Piszczek ist, ist neben seiner Liebe zum Sport und zum Verein auch ein Stück weit seinem Leichtsinn gegenüber dem eigenen Körper geschuldet. Seit drei Jahren wird über sein Karriereende gesprochen. Vor der Saison zögerte Piszczek es ein zweites Mal hinaus, als er in „Eigentlich bin zu alt für diesen Scheiß"-Roger-Murtough-Manier seinen Vertrag um ein weiteres Jahr verlängerte.
Und lange wirkte es so, als sei er tatsächlich zu alt für diesen Scheiß: Mit Rückenproblemen startete er in das Spieljahr, der BVB holte mit Mateu Morey und Thomas Meunier zudem zwei neue Rechtsverteidiger, die ihm den Rang abliefen. Wiederholt warfen ihn muskuläre Probleme aus der Bahn, er schaffte es immer seltener in den Kader. Auf diese Weise schien die große Karriere des Lukasz Piszczek ganz gemächlich auszuklingen.
Ein paar Anstandsminuten würde Edin Terzic ihm noch gewähren und dann könnte er seine müden Beine endlich hochlegen. Gegen die flinken seiner jungen Mitspieler und die der Gegenspieler hätte er sowieso kaum noch eine Chance.
Würde, hätte, könnte. Es kam natürlich anders.
Weil sich der junge Mateu Morey schwer verletzte und Thomas Meunier nicht überzeugte, musste Lukasz Piszczek plötzlich wieder hinten rechts ran. Sein Tempo, die Physis, die Flankenläufe, die tiefen Bälle: All das, was sein Spiel über ein Jahrzehnt ausgemacht hatte, war ein wenig abgeklungen. Die Spielintelligenz, die Ruhe und das taktische Verständnis jedoch hatte er nicht verloren. Und so lieferte Piszczek auf seine alten Tage unverhofft noch einmal Höchstleistungen. In der wichtigsten Phase der Saison stabilisierte er die rechte Seite der Borussia. Und krönte in Berlin eine Karriere, die gar keine Krönung mehr benötigt hätte.
Zurück dahin, wo er das Fußballspielen gelernt hat
Piszczek wollte unbedingt noch einen Titel mit dem BVB holen, hatte er gesagt. Also fegte er im Olympiastadion 90 Minuten lang die rechte Seite rauf und runter. Dann flossen die Tränen. Die er wahrscheinlich lieber irgendwo im Kabinentrakt rausgedrückt hätte, wo keine Kamera auf ihn gerichtet war.
Ein Abschiedsspiel will er nicht, hat er schon gesagt. Er stehe nicht gerne im Mittelpunkt. Und auch, dass ihm ein volles Westfalenstadion am letzten Spieltag nicht ein zweites Mal beim Heulen zugucken kann, dürfte ihm vielleicht sogar ganz recht sein.
Also wird es nach der Saison für ihn zurück in seine Heimat gehen. Ohne großen Knall, ohne Runde um den Borsigplatz und ohne die Jungs von früher. Er geht dorthin zurück, wo er das Fußballspielen gelernt hat, zum LKS Goczalkowice-Zdroj. Dort will er einfach noch ein bisschen kicken und die von ihm gegründete Jugendakademie betreuen. Fernab sämtlichen Trubels.
„Der Vergleich schmälert die großartige Erinnerung“
Lukasz Piszczek wird dieser Rückzug bestimmt sehr glücklich machen, in Dortmund werden sie ihn vermissen, den vielleicht besten Rechtsverteidiger der Vereinsgeschichte. Aber auch das werden sie verkraften. Beim BVB kennt man sich inzwischen ja ganz gut mit melancholischen Abschieden aus.
Als Jürgen Klopp den Verein 2015 verließ, sagte er viele kluge Sätze. In einem warnte er davor zu vergleichen. „Denn der Vergleich schmälert die großartige Erinnerung und erschwert die großartige Zukunft.“ Vielleicht nimmt sich der Verein die Worte seines Ex-Trainers sechs Jahre später schließlich zu Herzen und beginnt damit, die ohne Frage großartige Vergangenheit schlussendlich abzulegen und in die Zukunft aufzubrechen. Mit Lukasz Piszczek geht nun nämlich das letzte Stück Vergangenheit.