Daniel Ginczek wird immer wieder von Verletzungen zurückgeworfen. Kleinkriegen lässt er sich davon nicht. Im Gegenteil: Immer wieder kommt er zurück, immer wieder macht er seine Buden – so auch am Samstag in Augsburg. Wie schafft er das?
Innenband- und Kreuzbandriss, Bänderriss im Sprunggelenk, Bandscheibenvorfall, Adduktorenzerrung, Muskelfaserriss, Zehenbruch: Jeder Professor der Humanmedizin könnte Daniel Ginczeks Verletzungshistorie exemplarisch verwenden, um seinen Studenten die Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers zu veranschaulichen. Nichts ist unkaputtbar. Auch, wenn es noch so robust erscheinen mag.
Schon in der B‑Jugend hatte Daniel Ginczek eine Physis, die herausragte. Breites Kreuz, dicke Arme, eine Statur mit beachtlichem Schattenwurf, abgerundet durch seine braungebrannte Haut und das lange zottelige Haar, das ihm damals bereits eine Lederjacken-Türsteher-Attitüde verlieh. Demgegenüber steht seine besonnene Art und die ruhige Stimme in Interviews - hart aber herzlich, wie man im Ruhrgebiet zu sagen pflegt. Mal abgesehen davon, dass Ginczek aus dem Sauerland stammt.
Er ist in Arnsberg geboren, etwa 50 Kilometer von Dortmund entfernt, dort, wo er unter Jürgen Klopp seine ersten Trainingseinheiten bei den Profis absolvieren durfte. Mit schnörkellosem Fußball. Sein Stil ist trocken, selten schön, manchmal wirken seine Bewegungen durch die kantige Statur etwas grobmotorisch. Doch was er macht, macht er kontrolliert. Ginczek hat einen ähnlichen Spielstil wie Romelu Lukaku. Auch der Belgier war in der Frühpubertät bereits zu einem Muskelberg angewachsen, wirkte überentwickelt. Neben seinem Körperbau machte Ginczek durch seinen Torinstinkt auf sich aufmerksam. In der U‑17-Bundesliga traf er für den BVB 26 Mal und wurde Torschützenkönig. Und das als klassischer Mittelstürmer, ein Spielertyp, der damals schon als ausgestorben galt. Kategorie Kreisliga-Stürmer, der nicht groß heiß laufen muss, um zu liefern, sondern den Torinstinkt einfach in sich trägt.
Am Samstagnachmittag in Augsburg hat er das mal wieder bewiesen. Als er sich im Rücken der Abwehr davonschlich, sich klug zur präzisen Flanke bewegte und das tat, was ein Mittelstürmer eben tun muss. Ginczek hatte zwei Monate kaum vor den Ball getreten, war erst 30 Minuten vor Schluss ins Spiel gekommen und stand in der 91. Minute trotzdem genau richtig. Um das Ding im letzten Moment zum Sieg über die Linie zu drücken.
Ginczek kann behaupten, am vergangenen Wochenende einen kleinen Vorteil gegenüber anderen Spielern gehabt zu haben. Denn im Kaltstart nach einer Zwangspause zurückzukommen, darin ist er geübt wie kaum ein anderer Bundesligastürmer. Sein bitteres Zeugnis: Daniel Ginczek kommt auf 1113 Tage Ausfallzeit und 116 Spiele, die er nicht bestreiten konnte. Was sind da schon zwei Monate Corona-Pause?
Umso bemerkenswerter ist es, dass der 29-Jährige heute noch in der Bundesliga spielt. Ach was: Dass er dort überhaupt gelandet ist.
Bereits vor zehn Jahren wartete alles auf den Sprung in Jürgen Klopps Mannschaft. Doch alles wartete vergebens. Denn Daniel Ginczeks Fußballreise ist unweigerlich an seine Verletzungshistorie geknüpft. Und so begann die Reise ins Profigeschäft nicht mit den ersten Bundesligaminuten im Westfalenstadion, dem ersten Startelfeinsatz in Schwarzgelb und vielleicht dem ersten Tor vor der Süd. Sondern mit einem Innenbandriss.
Mit 21 Jahren ging es per Leihe zum VfL Bochum in Liga Zwei, wo er knapp ein Jahr lang verletzungsfrei blieb, ehe sein Innenband im Knie riss. Von Bochum wechselte Ginczek nach einem Jahr zum FC St. Pauli. Am Millerntor riss, brach, dehnte, entzündete oder verstauchte glücklicherweise nichts und der Stürmer machte ordentlich Alarm: Er traf in der Saison 2012/2013 18 Mal und schaffte ein Jahr später den Sprung in die Bundesliga zum 1. FC ZürnBerg.
Was er sich beim Club so vorgenommen hätte, fragte ihn eine Reporterin des vereinsinternen TV-Senders im Trainingslager vor Saisonbeginn. „Gesund zu bleiben, ist das Wichtigste", entgegnete Ginczek. Drei Monate später brach er sich den Zeh, dann riss sein Kreuzband. Nürnberg stieg ab und Ginczek machte kein Spiel mehr für den Club.
Keine 18 Saisonspiele im Schnitt
Denn noch in der Reha-Phase verpflichtete der VfB Stuttgart den Stürmer und hielt ihn so in der Bundesliga. Ein risikoreicher Transfer für den VfB und seine Verantwortlichen, die von Ginczeks Können überzeugt waren. Erst gegen Ende des Jahres machte der seine ersten Spiele für die Schwaben.
Beim VfB rollte seine Karriere langsam an. So dass Jogi Löw 2015 davon sprach, Ginczek „seit einiger Zeit genauer zu beobachten“. Er habe einen guten Torinstinkt, sagte der Bundestrainer über ihn. Doch dann kam, was im Alter von 24 Jahren eigentlich noch nicht kommen sollte: Prolapsus nuclei pulposi. Bandscheubenvorfall.
Ginczek musste im Halswirbelbereich operiert werden. Damit war auch diese Saison gelaufen.
Nach vier langen Monaten durfte er wieder ins Training einsteigen. Zehn Tage lang ging das gut, da knallte wieder etwas in seinem Knie. Erneut das Kreuzband. Wieder OP, wieder wochenlang keine Bewegung, wieder Genesungswünsche, Mitleid, die üblichen Ich-komme-stärker-zurück-Parolen, Aufbautraining, Kraftraum. Die Diagnose brachte vor allem eine Sinnfrage als Kollateralschaden mit sich: Soll ich da wirklich noch mal durch? Wieder von Null anfangen?
Der Stürmer bejahte, aber fiel quasi das gesamte Jahr aus. Stuttgart stieg ab. Und der VfB startete 2016 genau wie sein Stürmer einen Neuanfang in der zweiten Liga. Auch dank Ginczeks Toren gelang der direkte Wiederaufstieg. Nach einer soliden Bundesligasaison mit den Stuttgartern sicherte sich der VfL Wolfsburg 2018 für 14 Millionen Euro seine Dienste. Viel Geld für einen, der für den VfB im Schnitt keine 18 Spiele pro Saison gemacht hatte. Aber wieder ein Vertrauensbeweis in seine Fähigkeifen.
„Wie ein Ibrahimovic“
Beim VfL Wolfsburg kam er in zwei Jahren bislang 40 Mal zum Einsatz. Auch hier blieb er von schweren Verletzungen nicht verschont. Wegen einer Rückenverletzung vor der Saison verpasste er beinahe die gesamte Hinrunde, kam in der Rückrunde meist nicht über die Jokerrolle hinaus. Aber trotz all der Verletzungen und der knapp drei Jahre, die er wegen Verletzungen verpasst hat, gibt sich Ginczek betont positiv und glaubt sogar, die verlorene Zeit noch aufholen zu können: „Es ist beschissen, dass es immer wieder mich trifft“, sagte er während seiner letzten Verletzungspause Ende 2019. „Aber ich hoffe, dass ich es am Ende meiner Karriere dranhängen kann – ähnlich wie ein Ibrahimovie.“
Nun gilt es für Daniel Ginczek zunächst einmal unfallfrei durch den dicht getakteten Bundesligabetrieb zu kommen. Die noch ausstehenden acht Spieltage sollen bis zum 27. Juni ausgespielt werden, für DFB- und Europapokal gibt es noch kein Konzept. Es warten englische Wochen, hohe Belastung, wenig Vorbereitung. Und einen Virus gibt es ja auch noch.