Die Legende besagt, in ganz Italien habe an diesem 14. Mai 2000 die Sonne geschienen, außer in Perugia. Über Pian di Massiano, einem Vorort der umbrischen Hauptstadt, wo das Renato Curi Stadion vom AC Perugia steht, zieht sich gegen Mittag eine dichte Wolkendecke zu. Als das letzte Spiel der Saison zwischen dem AC Perugia und Juventus Turin angepfiffen wird, ist der Himmel über „Curi“ grau und ergießt sich innerhalb weniger Minuten dermaßen stark, dass sich der Platz in eine Sumpflandschaft verwandelt. Schiedsrichter Pierluigi Collina bleibt nichts anderes übrig als das Spiel beim Stand von 0:0 zu unterbrechen.
Währenddessen spielt Lazio seinen Stiefel zu Hause im Parallelspiel gegen Reggina Calcio locker herunter. 3:0 gewinnen die „Biancocelesti“ bei strahlendem Sonnenschein und schließen vorerst punktemäßig zu Juve auf. Beide haben 72 Punkte, die Turiner allerdings noch knapp 80 Minuten, um ein Tor zu erzielen.
Gegen Nachmittag beruhigt sich das Wetter in Umbrien ein wenig und Collina pfeift das Spiel zwischen Perugia und Juventus wieder an. Im Stadio Olimpico ist da schon Schluss, sodass sich das gesamte Stadion dem Parallelspiel widmen kann. So verfolgen die 70.000 Laziali über Radio wie Alessandro Calori Anfang der zweiten Hälfte den Führungstreffer für Perugia erzielt, Juve sich eine ganze Halbzeit lang im Matsch des Renato Curi abackert und es letztendlich nichtmal Filippo Inzaghi gelingt, den Ball irgendwie über die Linie zu stochern. Lazio hat es tatsächlich geschafft. Das 26-jährige Warten auf den Scudetto hat ein Ende, passend zum 100-jährigen Vereinsbestehen.
Kein Gallisches Dorf
Die Geschichte dieser Meisterschaft war nicht die, der aufmüpfigen Außenseiter, keine moderne Gallier-Nummer. Zur Wahrheit gehört nämlich, dass sich Lazio-Besitzer Sergio Cragnotti den Erfolg eine Menge Geld hat kosten lassen.
Bereits ein Jahr zuvor hatte die Societa Sportiva Lazio nach dem Meistertitel gegriffen, war auf der Zielgeraden aber denkbar knapp gescheitert. Erst am vorletzten Spieltag zog der AC Mailand in der Tabelle vorbei und sicherte sich am letzten Spieltag den Scudetto. Mit einem Sieg im (sonnigen) Perugia. Ein Pünktchen trennte Lazio vom ersten Titelgewinn seit 1974.
Also blies der Klub zur Transfersoffensive. Besitzer Cragnotti wollte diesen Titel mit aller Macht, wollte der italienischen Vorherrschaft von Milan, Inter und Juve ein Ende setzen und vor allem wollte der himmelblaue Teil Roms im ewigen Stadtduell mit der AS Roma gewinnen.
Zunächst musste Lazio 1999 jedoch mit dem Abgang ihres Top-Torjägers Christian Vieri klarkommen. Für 48 Millionen Euro krallte sich Inter Mailand den Stürmer, der seinerzeit einer der besten seines Fachs war. Das Geld reinvestierte Lazio in die Mittelfeldachse Diego Simeone und Juan Sebastian Veron. Die Lücke, die Topstürmer Vieri riss, flickte der Klub an anderen Stellen. Zwar holte Lazio Simone Inzaghi, doch der Stürmer kam nie über die Rolle des Edeljokers hinaus und sah sich dem Schicksal gegenüber, eine Fußballerkarriere im Schatten seines großen Bruders Filippo Inzaghi führen zu müssen. Mit Inzaghi und dem Chilenen Marcelo Salas ging das Team daher ohne namhafte Stürmer in die Saison. Das Herzstück der Mannschaft war zweifelsohne das MittelFeld.
"Das beste Mittelfeld der Welt"
Lazio spielte 1999/2000 in einem flexiblen 4 – 5‑1-System, das sich immer wieder in ein 4−3−3 oder 4−4−2 verschieben konnte. Meist spielten Sergio Conceicao und Pavel Nedved auf den Außenbahnen, Juan Sebastian Veron und Diego Simeone im Zentrum, vor der Abwehr der Argentinier Matias Almeyda, in der Hinterhand hatte Trainer Sven Göran Eriksson den Altmeister Roberto Mancini und den 20-jährigen Dejan Stankovic. „Das beste Mittelfeld der Welt“, wie der mittlerweile verstorbene Journalist Alberto D’Aguanno damals sagte.Eine Reihe tiefer spielte Innenverteidiger Alessandro Nesta, der bereits mit 23 Jahren Kapitän von Lazio Rom wurde. Neben ihm stand Sinisa Mihajlovic, laut Eriksson „der beste Linksfuß seiner Zeit“. Mit 28 Freistoßtoren ist der Serbe bis heute der Rekordhalter in der Serie A.
Die Mannschaft durchzog eine Mischung aus Routiniers wie Mihajlovic, Weltklassespielern wie Veron, Überraschungen wie Salas, Talenten wie Nesta und Abgeschriebenen wie Mancini. Ein Cast bestehend aus starken Hauptakteuren und brillanten Nebendarstellern.
Das Spiel war – ganz im Stile der Neunzigerjahre – dadurch gekennzeichnet, schnellstmöglich zum gegnerischen Tor zu kommen. Es ging nicht um die Kontrolle des Spielgeräts und des Gegners. Vielmehr beförderte man den Ball unverblümt ins hintere Drittel. Mit Nesta und Mihaljovic, die hoch verteidigten, technisch starken Spieler wie Nedved und Mancini, die die Schnittbälle draufhatten, Salas oder Inzaghi, die die Bälle festmachen konnten, Veron, der als Abnehmer dahinter stand oder auf zweite Bälle spekulierte. Und einem flexiblen Positionsspiel im Mittelfeld. „Im Ballbesitzspiel waren wir gut, aber im Konterspiel herausragend“, sagte Sven Göran Eriksson.
Lazio nicht der Primus
Lazio Rom spielte guten Fußball, der Primus der Liga hieß dennoch Juventus Turin. Das Team um Edgar Davids, Zinedine Zidane, Alessandro Del Piero und Filippo Inzaghi stand Ende März neun Punkte vor Lazio. Bei noch acht ausstehenden Spielen schien das Meisterrennen bereits entschieden. Doch Juve strauchelte, während Lazio besonnen ihre Spiele gewann und den Abstand bis zum letzten Spieltag auf zwei Punkte verkürzen konnte – auch wegen eines 1:0‑Sieges in Turin.
Und so kam es zum eingangs skizzierten Showdown am letzten Spieltag, an dem Lazios Aufholjagd tatsächlich noch in der Meisterschaft mündete. „Der Himmel hat es so gewollt“, sagten die Laziali in Anspielung auf den Wolkenbruch von Perugia. Eine Woche später machten die Römer das Double perfekt und legten sich die Coppa Italia als Kirsche auf den Scudetto. Damit war der Verein im Orbit angekommen, mehr ging wirklich nicht. Oder doch?
Hernan Crespo kommt für 55 Millionen
Sven Göran Eriksson und Lazios Präsident Sergio Cragnotti formulierten ein neues Ziel: „Um meine Arbeit hier abzuschließen, möchte ich die Champions League gewinnen“, sagte der Schwede Eriksson selbstbewusst.
Umgerechnet über 70 Millionen Euro investierte der Klub vor der Saison 2000/2001 in neue Spieler, unter anderem überwies Cragnotti 55 Millionen Euro an den AC Parma für den Stürmer Hernan Crespo. Maßnahmen für ein ambitioniertes Ziel, wie die einen argumentierten, ein verlorenes Maß sagten andere. Auf dem Abschlussbericht stand zu Saisonende Crespo als Torschützenkönig, Lazio auf dem Dritten Tabellenplatz und das Champions-League-Aus in der Gruppenphase. Eriksson verließ zu Saisonende den Klub und wurde Nationaltrainer in England.
Zur neuen Saison gingen auch Pavel Nedved und Juan Sebastian Veron, Gaizka Mendieta vom FC Valencia kostete Lazio 48 Millionen Euro und sollte die Lücke stopfen, konnte die Erwartungen aber nicht erfüllen.
Den Scudetto im Jahr 2001 sicherte sich AS Rom. Im Streben um die Vorherrschaft in der Stadt trat Lazio mit der Roma in ein Wettbieten, das den Verein beinahe in den Ruin trieb. Die Ablösesummen wurden immer obszöner, der Erfolg hingegen blieb aus. Ein Jahr später musste der Verein Alessandro Nesta (Milan) und Hernan Crespo (Inter) verkaufen, um einen Teil der massiven Schulden abzubauen.
Claudio Lotito betritt die Bühne
Die fetten Jahre waren vorbei. Besitzer Cragnotti übergab den maroden Verein 2004 mit mehr als 100 Millionen Euro Schulden an Claudio Lotito, der einen sagenhaften Aufstieg zum unbeliebtesten Mann der Stadt schaffen sollte. „Ich übernahm diesen Klub bei seiner Beerdigung und führte ihn zurück ins irreversible Koma. Ich hoffe, ihn bald aufwecken zu können“, sagte Lotito bei Amtsantritt.
Übersetzt hieß das, einen Sparkurs sondergleichen zu fahren. Und seither wirtschaftet der Verein gut, schreibt saubere Zahlen, aber dennoch ist Lotito in Rom unbeliebt wie Ananaswürfel auf der Proscuitto. Krudes Management, ein ewiger Clinch mit Spielern, ein ziemlich intimes Verhältnis zu Ex-Verbandspräsident Carlo Tavecchio und ein nachgewiesenes Rumgefummel im Wettbetrugsskandal von 2006 stehen auf seiner Akte. Außerdem pflegt er ein äußerst zerrüttetes Verhältnis zu Lazios Fans, die seit Jahrzehnten durch rechtsextreme Umtriebe auffallen. „Für Lotito sind Macht und Einflussnahme im Fußball das Wichtigste. Der andauernde Konflikt mit den Fans ist da nicht viel mehr als ein Kollateralschaden“, sagt Journalist und Lazio-Experte Jacopo Simsnelli.
Die Vergänglichkeit des Erfolgs
Was auf die erfolgreiche Ära der Jahrtausendwende folgte, war eine Mischung aus Gier und der natürlichen Vergänglichkeit des Erfolges. Der hellblaue Teil der Stadt war ergraut.
Mittlerweile laufen die Dinge in Rom anders. Die Rotgelben haben die Konkurrenz ein wenig weiter in den Schatten gedrängt. Um konkurrenzfähig zu bleiben, investiert Lazio längst nicht mehr so viel Geld in neue Spieler, die Rezeptur ist eine andere: Geheimtipps, Gescheiterte und junge Talente bilden das Gerüst der Mannschaft. Das Spiel ist auf Top-Torjäger Ciro Immobile zugeschnitten.
Vor der Corona-Krise stand Lazio sportlich so gut dar wie vor 20 Jahren zuletzt. Ein Punkt liegen sie hinter Spitzenreiter Juventus Turin. Natürlich erinnerte manch einer da an die Jahrhundertmannschaft von 2000: Mit Simone Inzaghi, der mittlerweile an die Seitenlinie gewechselt ist, Lazios Abräumer Sergej Milinkovic-Savic, der die Physis mit der Technik kombinieren kann, wie Simeone es konnte, ein Luis Alberto, beim FC Liverpool gescheitert, der diese Saison als Spielmacher überragt wie es Veron 2000 tat. Und Abwehrchef Luiz Felipe, der den fantasiereichen Laziali schon an Alessandro Nesta erinnert. Auch wenn Felipe davon sicherlich noch weit entfernt ist, sieht man seine Stärken ähnlich wie bei Nesta in der Antizipation und dem Selbstbewusstsein in der Ballführing.
Was diese Saison in Rom passiert, kann eine schöne Geschichte werden. Doch so wie die Geschichte von 2000 nicht zum Gallischen-Dorf-Mythos passte, stimmt auch die Geschichte der heutigen Saison nicht mit den Geschehnissen von 2000 überein. Im schlimmsten Fall ist sie auch schon zu Ende erzählt. Denn leider wird sie momentan ausgebremst durch einen Virus, für den bisher noch der Zaubertrank fehlt.