Der Justin-Bieber-Shake. Das Trikot schlabberig am dürren Leib. Schnitt. Das erste Spiel in Köln. Der Fehlpass, der zum Gegentor führt. Schnitt. Umarmung von Klopp. Der beschämte Blick des kleinen pickeligen Jungen. Schnitt. Dann das erste Tor in Stuttgart. Das Tor gegen Mainz. Tabellenführung. Schnitt. Das Traumsolo gegen Hannover. Der Schuss gegen Nürnberg. Schnitt. Die Spritzigkeit. Der Leichtfuß. Der Golden Boy. Das Meisterstück. Der Pokal. Und dann: schwarz.
Das Bild, das mein Hippocampus von Mario Götze zusammenflechtet, ist nicht das aufgeblasene, verklärte, gegen das er seit dieser verfluchten Nacht von Rio ankämpft und das nun, da die Trennung zum Saisonende beschlossene Sache ist, wieder überall gezeichnet wird. Zugegeben, ganz löschen kann ich das Bild auch nicht, aber ich versuche ebenso dagegen anzukämpfen wie Götze. Und wer gezielt in seiner Erinnerung kramt, kann sie regulieren und dann wird er erkennen, dass da tatsächlich weit mehr auf Götzes Abzug ist, als die Sequenzen vom Jahrhunderttalent zum Bayernwechsel über das WM-Finale hin zur gescheiterten Rückkehr nach Dortmund.
Zerrt man all diese Dinge auseinander, ergibt sich eine feinkörnige Aufnahme von ihm. Eine, in der noch immer der kleine pickelige Junge von 2010 steckt, der seinerzeit das Größte war, was ich als 15-jähriger (noch viel pickeligerer) Junge in meinem Fandasein erleben durfte.
Der beste Spieler, den Dortmund je hervorgebracht hat
Nach Jahren mit Marc-Andre Kruska, Florian Kringe (in allen Ehren!) und Sascha Rammel war da plötzlich dieser Mario Götze, bloß ein paar Jährchen älter als ich. Hier und da hatte man mal etwas von ihm gehört: Er soll ein Großer werden, sagten sie. Ja ja, Sebastian Tyrala sollte auch ein ganz Großer werden. Und dieses Megatalent aus Madrid auch. Flavio Conceicao oder so.
Doch Götze, das wurde schnell klar, war keine Luftpumpe wie die anderen groß angekündigten Turbo‑, Mega- und Ultra-Talente. Sondern tatsächlich ein unfassbarer Fußballer. Wie ein freies Radikal schien er über den Platz zu schweben. Und erinnerte einen angegrauten Verein daran, wie viel Schönheit in ihm schlummert. Kein One-Season-Wonder. Viel mehr war man sich zu diesem Zeitpunkt sicher, Götze sei der beste Spieler, den Dortmund je hervorgebracht hat.
Um ihn herum bildete sich eine Mannschaft, die das erfolgreichste Jahrzehnt der Vereinsgeschichte begründen sollte. Mit dem jungen Spielmacher als entscheidendem Wurzelstrang.
Mehr Posterboy als Hummels
Drei Jahre lang hat er uns verzaubert und die Stadt zu lang ersehnten Titeln getragen. „Wir sind gemeinsam gewachsen“, sagte Klopp Jahre später. So wie Götze mitschwamm, schwammen auch ich und meine ganze Generation mit dieser Mannschaft mit. Bis Götze plötzlich aus diesem Gebilde herausstach. Er war noch ein Stück lässiger als Sahin, noch aufregender als Kagawa und noch mehr Posterboy als Hummels. Und das, obwohl Posterboys eigentlich längst out waren. Da war er gerade eben noch ein Jüngling, so wie ich, zu dem ich eine Nähe empfand, und im nächsten Moment schwebte er über allem.
Nie wieder habe ich eine Bewunderung gegenüber einem Fußballer empfunden wie zu Mario Götze in diesen Jahren. Auch als er langsam erwachsener wurde, abgebrüht im Umgang mit Medien, unnahbar, gefühlskarg. Dass diese vermeintlich innere Unsicherheit und das selbstsichere Auftreten nicht so ganz zueinander passten, war mir egal. Wir lieben ihn, was auch immer er tut, dachte ich. Solange er bei uns bleibt. Soll er doch seinen Social-Media-Kram machen, seine blinkenden Ohrringe tragen, seine gefärbte Föhnfrisur, die Stutzen über die Knie ziehen, seinen Halswärmer im Spiel tragen – Mach was du willst, aber bleib für immer hier und trag uns durch die Zeiten, solange deine Beine dich tragen. Ich war mir absolut sicher, dass diese Liebe auf Gegenseitigkeit beruhte. Borussia, sein Verein, Dortmund, seine Stadt, das Westfalenstadion, die Süd, Nuri, Mats, Manni, Kloppo – das war doch das Beste, was er hatte. Doch von einem auf den anderen Tag, war es scheinbar das Letzte, was Mario Götze brauchte. „Götze geht zu den Bayern.“ Mit diesen Worten weckte mich meine Mutter am 23. April 2013. Nein, nein, nein, nein, nein, nein, ratterte es in meinem Kopf. Das konnte unmöglich wahr sein. Ein verbaler Vorschlaghammer. Das konnte nur ein Bluff sein. Hektisch zückte ich mein Handy, scrollte durch Kicker, Bild,Spiegel und die Süddeutsche Zeitung, in der Hoffnung, irgendwo einen Hinweis zu finden, dass das Ding noch lange nicht durch ist. Dass das bloß eine riesengroße, fette, beschissene Ente ist. Der Rest der Story ist Guardiola-Bayern-Rio-Zeig-der-Welt-dass-du-besser-bist-als-Messi-Gesabbel, das mich nicht interessiert. Denn an jenem Morgen, als ich mit der Bild-Schlagzeile aus dem Bett geprügelt wurde, endet das Kapitel Götze für mich. Kein Bayern, kein Guardiola, kein Rio. Keine Rückkehr nach Dortmund. Sondern für immer sein Tor gegen Hannover. Als der BVB auf der Zielgeraden zur Meisterschaft zurückliegt, er sich den Ball 40 Meter vor dem Tor holt, mit seinen flinken Beinen auf die Viererkette zuläuft, in einer schnittigen Bewegung drei Mann aussteigen lässt und den Ball mit der Picke ins Tor schiebt, wir das Spiel drehen, Meister werden und ein 18-jähriger Götze uns an die Hand nimmt und uns zeigt, wie es im Himmel sein muss. Dann der Abspann. So wie man die Mücken vergisst, wenn man an den Sommer denkt. Nur, dass die Mücke in diesem Fall sein WM-Tor ist und der Sommer aus Mario und mir besteht. Er 18 Jahre alt, ich 15. Und zusammen haben wir mehr Pickel als Bayern München je Meistertitel holen wird.Das Letzte, was er braucht
Kein Bayern, kein Rio, keine Rückkehr