Dass Kinderbücher auch Schwarze Kinder und Kinder of Color abbilden, ist auf dem deutschen Markt nicht die Regel. Verschiedene Initiativen arbeiten daran, diverse Kinderliteratur hervorzuheben und in Berlin zugänglich zu machen.
Patty, Mickey und Liza Sue kennen den Blick zum Himmel nur noch von einem Bild an der Wand. Die Erwachsenen – ihre Eltern, Nachbar*innen und Lehrer*innen – haben die drei Kinder in eine große Kiste gesperrt. Weil sie gelacht, gesungen und im Hausflur gelärmt hatten. Diese Geschichte erzählt die 2019 verstorbene amerikanische Autorin Toni Morrison in „Die Kinderkiste“, einem Klassiker der diversen Kinderliteratur. Nicht nur sind in den Illustrationen Kinder of Color zu sehen. Es werden auch Unterdrückungserfahrungen verhandelt: Der Begriff Adultismus beschreibt die Unterdrückung, die Kinder erfahren, wenn sie als unfertige Erwachsene wahrgenommen werden statt als Menschen mit eigenwertiger gesellschaftlicher Position. Der kreative, körperliche und selbstbestimmte Ausdruck von Patty, Mickey und Liza Sue eckt an, weil die Erwachsenen sich bereits auf eine andere und konformere Art des gesellschaftlichen Zusammenlebens geeinigt haben. „Du kommst mit der Freiheit nicht klar“, wird jedem der Kinder im Buch gesagt. „Leben wir Freiheit nur so wie ihr, ist sie nicht Freiheit“, entgegnen sie dann.
Eltern und Erzieher*innen, die Werke dieser Art in ihre Bibliothek aufnehmen würden, haben es nicht ganz leicht: Die im Rowohlt Verlag erschienene deutsche Übersetzung lässt sich längst nur noch als gebrauchtes Buch auftreiben. Immerhin: Ein Exemplar steht in der Kurt-Tucholsky-Bibliothek in Pankow.
Diversität nebenbei
In Deutschland ist noch keine Studie zur Repräsentation von Minderheiten auf dem Kinderbuchmarkt erhoben worden. Für eine stichprobenartige Recherche bietet sich der Carlsen Verlag an – er hatte zuletzt den stärksten Umsatz in der Branche. Eine Pressevertreterin nennt Beispiele für dort erschienene Bücher, in denen Kinder of Color „ganz nebenbei“ präsent seien. Sie verlinkt unter anderem zu Titelbildern der traditionsreichen „Conni“-Reihe. Autorin Liane Schneider bezieht die Inspiration für die „Conni“-Geschichten aus der Kindheit ihrer weißen Tochter Cornelia. Kinder of Color finden deshalb als Nebenfiguren, als Teil von Klassengemeinschaften oder Freundeskreisen statt. Schneider zeichnet so ein realistisches Bild deutscher Kindergärten und Schulen, wo Diversität in den meisten Regionen die Regel ist.
Das Wort „nebenbei“ ist gefallen – als Abgrenzung zu Kinderliteratur, die Diversität nur dann einsetzt, wenn ein Sozialdrama erzählt werden soll. Die Berliner Autorin Karin Beese zum Beispiel, verantwortlich für die diverse besetzte Kinderbuchreihe „Nelly und die Berlinchen“, sagt, sie habe sich oft geärgert, dass Schwarze Kinder in Büchern nur dann auftauchen, wenn eine nötige Überwindung von „Anderssein“ thematisiert werden soll. Die Berliner Initiative „i-Päd – intersektionale Pädagogik“ verwendet für diesen Unterschied die Begriffe „problemorientiert“ und „nicht problemorientiert“. Auf ihrer „Intersektionalen Kinderbuchliste“ soll so erkennbar werden, ob ein Buch nur mit diversen Figuren arbeitet oder Diversität zentrales Thema der Geschichte ist. Diese Unterscheidung verweist auf eine zweite Ebene der Fragestellung: Eine Hauptfigur bietet beim Lesen das meiste Identifikationspotential. Aber gibt es Hauptfiguren, die nicht weiß sind ebenso selbstverständlich wie Kinder of Color, die nur Hintergrundelement einer großen Spielplatz-Illustration sind?
„Kinder of Color treten oft in Nebenrollen auf, in denen sie nicht aktiv zum Geschehen beitragen“, sagt Tebogo Nimindé-Dundadengar. Sie ist eine der zwei Inhaberinnen von Tebalou, einem Geschäft für „Vielfalt im Spielzimmer“ in Berlin-Mariendorf. Sie findet, dass es in Deutschland zu wenig Kinderliteratur gibt, in der Perspektiven von Menschen of Color eingenommen werden: „Bücher, in denen spezifische Identitäten und auch spezifische Diskriminierungsformen wie Rassismus kindgerecht verhandelt werden fehlen weitestgehend“, sagt sie. Nimindé-Dundadengar wünscht sich „authentische Geschichten, die nicht über die Lebensrealitäten der vermeintlich Anderen berichten, sondern von Menschen geschrieben sind, die genau diese Lebensrealitäten selbst erfahren haben.“ Es muss also unterschieden werden zwischen „Anderssein“-Büchern und solchen, die von PoCs geschrieben sind und deren Perspektiven in den Vordergrund rücken.
„Das bin (ja) Ich!“
Chima Ugwuoke findet wichtig, mit Kindern über Rassismus zu sprechen. Sie arbeitet für den Berliner Landesverband der Sozialistischen Jugendorganisation Die Falken und hat Erfahrung in der politischen Bildungsarbeit mit Kindern. „In einer mehrheitsweißen Gesellschaft ein PoC-Kind zu sein, bedeutet besondere Unterdrückungserfahrungen“, sagt sie und spricht damit Intersektionalität von Adultismus und Rassismus an. „Wenn Machtverhältnisse nicht thematisiert werden, denken Kinder oft, dass sie selbst Schuld oder unzulänglich sind. Je früher wir mit Kindern darüber sprechen, dass das Machtverhältnisse sind, desto besser können sie es von sich trennen und überhaupt als ungerecht erkennen.“ Bücher können bei diesen Gesprächen ein gutes Hilfsmittel sein. Geeignete Bücher müssen Eltern und Bezugspersonen von Kindern aber erst einmal finden.
Schon 2016 initiierte Ugwuoke eine mobile Bibliothek für antirassistische Literatur und Schwarze feministische Perspektiven namens „Audream“. Die Nachfrage nach Kinder- und Jugendbüchern sei von Anfang an besonders hoch gewesen, sagt sie. Viele der Bücher, die sie geeignet findet – Bücher, die nicht-weiße Kinder in Hauptrollen und nicht stereotypen Rollen zeigen – seien nie aus dem Englischen übersetzt worden oder nur in kleinen Auflagen erschienen. Ugwuoke kuratiert deshalb unter dem Titel „Das bin (ja) Ich“ Lesungen für Kinder, bei denen die verfügbaren Bücher vorgestellt werden – zuletzt im Ballhaus Naunynstraße, einer Einrichtung für postmigrantische Kulturpraxis in Kreuzberg. Eine der Lesungen hatte Rassismus explizit zum Thema: Es wurde „Das Wort, das Bauchschmerzen macht“ von Nancy J. Della gelesen. Die Autorin erzählt darin von einem Schwarzen Jungen in der Vorschule. Beim Vorlesen eines nicht eindeutig benannten, aber als „Pippi Langstrumpf“ wiedererkennbaren Kinderbuchs spricht die Lehrerin das N-Wort aus. Die weißen Kinder in der Klasse begreifen es daraufhin als akzeptable Bezeichnung für den Jungen und können seine verletzten Gefühle nicht verstehen.
Wenn Chima Ugwuoke mit einem Kind spricht, dass Rassismuserfahrungen gemacht hat, ist ihre Strategie Empowerment: „Es reicht nicht, zu sagen: Mach dir nichts draus. Man muss positive Bilder und positive Geschichten zeigen, um Kindern zu vermitteln, dass wir mit unserer Hautfarbe auch schön und vielfältig sind und nicht stereotyp.“
Berliner Bibliotheken
„Man findet diverse Kinderliteratur schwer, indem man einfach in den nächsten Buchladen geht“, sagt Tebogo Nimindé-Dundadengar. Daraus folgt, dass sie für Menschen, die nicht gezielt danach suchen, schlicht nicht sichtbar ist. Dabei würden auch weiße Kinder und deren Bezugspersonen von einem realistischen Abbild der deutschen Gesellschaft und auch von Einblicken in PoC-Perspektiven profitieren. Wer aber gezielt sucht, wird zum Beispiel in Nimindé-Dundadengars Spielwarengeschäft fündig. Weitere Möglichkeiten bieten Bibliotheken: „Audream“ hat etwa als mobile Bibliothek zwar keinen Standort, an dem man blättern kann. Wenn man sie per E-Mail zu einer passenden Veranstaltung einlädt, fährt Chima Ugwuoke aber Bücherkisten quer durch Berlin. Wie es bei den verschiedenen Berliner Stadtbibliotheken aussieht, lässt sich nicht allgemein sagen. Wenn der Bestand ergänzt werde, erfolge dies „häufig standortbezogen“ und spiegele die Anforderungen des jeweiligen Umfelds wider, heißt es bei der Zentralbibliothek. Karin Beeses „Nelly und die Berlinchen“-Bücher finden sich aber zum Beispiel in vielen Berliner Bezirken.
Diese und andere Bücher zeigen, dass auch weiße Autor*innen und Illustrator*innen in den letzten Jahren Kinder of Color in ihren Werken mitgedacht haben. Gleichzeitig besteht Bedarf an Büchern von PoC-Autor*innen, die Kindern of Color helfen, spezifische Erfahrungen wie Rassismus zu verhandeln und Empowerment zu erfahren. Die Bücher müssen außerdem für Eltern und andere Bezugspersonen von Kindern zugänglich sein. Darum bemühen sich bislang vor allem Betroffene. Ein Besuch bei einer Kettenbuchhandlung reicht zurzeit noch nicht.
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