Mathieu von Rohr

Reporter, Korrespondent, Paris

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Artikel

Bonjour Tristesse

Eine Krise hat das Land im Griff - seine Bedeutung in Europa nimmt ab, die Wirtschaft lahmt, die politischen Eliten sind in Verruf. Benötigt wird eine Revolution, doch Präsident François Hollande zögert und zaudert.


In der imperialen Pracht des Elysée-Palasts hat Frankreich nie aufgehört, eine Weltmacht zu sein. Fünf Meter hohe Räume sind zu besichtigen, goldglänzende Kronleuchter, Kerzenständer und Stuckaturen, vor den Toren paradiert die Republikanische Garde mit ihren Federbüschen und Bajonetten.

Der König wirkt in seinem Schloss dagegen einsam und klein. Er ist umgeben von Bütteln, die Gläser und Schreibsets geometrisch zurechtrücken, und wenn er ein Sitzungszimmer betritt, rufen sie achtunggebietend "Monsieur le Président de la République!", damit die Mitarbeiter Zeit haben, sich für ihn zu erheben.

Eigentlich wollte François Hollande gar kein König sein, sondern ein "normaler Präsident", so sagte er, nun muss er trotzdem einen spielen. Er wirkt manchmal wie ein Darsteller, der ins falsche Stück geraten ist.

Draußen, im Land, bricht die Arbeitslosigkeit monatlich Rekorde, schließen täglich Fabriken, gehen Hunderttausende auf die Straße gegen die Homo-Ehe, breitet sich Entsetzen aus über immer neue Affären der Politiker und Frankreichs drohenden Bedeutungsverlust. Doch in der Welt, die François Hollande bewohnt, ist von diesem Tosen nichts zu hören. Es ist still. Sehr still.

Kurz nach Einzug in den neuen Amtssitz warnte Hollande seine Mitarbeiter: Man könne in einem Palast der Gefahr erliegen, sich geschützt zu glauben. Er wolle sich nicht "einschließen" lassen. Genau das geschieht aber, wie der Dokumentarfilm "Le Pouvoir" (Die Macht) zeigt, der in Frankreich vor kurzem in die Kinos gekommen ist und dessen Autoren Hollande während der verheerenden ersten acht Monate seiner Präsidentschaft begleitet haben.

Dabei entstand das Bild eines sympathischen Mannes, der viel Zeit damit zu verbringen scheint, Reden umzuschreiben, die seine Mitarbeiter vorbereitet haben. Und bei dem man sich, je länger man ihn beobachtet, fragt, ob man ihn nur nicht sieht, wenn er etwas Wirkliches tut, oder ob er tatsächlich nichts tut. Das Hauptthema des Films aber ist nicht der Präsident, zu besichtigen ist die Realitätsblase an der Spitze des Staates: Nicht nur Hollande, auch die meisten Minister residieren noch heute in Pariser Stadtpalästen aus der Zeit vor der Revolution, und womöglich ist das ein Problem.

Wer seinen Alltag etwa als Justizministerin im Hôtel de Bourvallais an der Place Vendôme zubringt, Tür an Tür mit dem Hotel Ritz, wer als Kulturministerin zum Dienst geht in den wunderbaren Palais Royal, wer Premierminister wird im grandiosen Hôtel Matignon oder gleich Präsident im Elysée-Palast, braucht viel innere Festigkeit, um sich den Sinn für die Realität zu erhalten. Denn die Pariser Kulissen der Macht sagen: Frankreich ist groß. Reich. Schön.

Die Stimmung, die über dem Land liegt hingegen, ist depressiv. Frankreich erlebt gerade die größte Krise der Fünften Republik. Es fühlt sich an, als wäre das französische Modell nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in Politik und Gesellschaft in einem Endstadium angekommen. Ein Land, das seine Probleme lange ausgeblendet hat, durchlebt einen schmerzhaften Anpassungsprozess an die Wirklichkeit und muss sich, wie vergangene Woche geschehen, von der EU-Kommission ermahnen und zu Reformen auffordern lassen.

Sichtbar wird die Misere zunächst in der Wirtschaft, die seit fünf Jahren stagniert, weil der französische Staatskapitalismus nicht mehr funktioniert. Doch die Krise reicht tiefer. Es geht um eine politische Klasse, die bei mehr als drei Vierteln der Bevölkerung als korrupt gilt, und um einen Präsidenten, der jetzt schon so unbeliebt ist wie keiner vor ihm. Es geht um eine Gesellschaft, die so unversöhnlich in Links und Rechts gespalten ist wie in kaum einem anderen Land Europas. Und schließlich geht es um die Identitätskrise einer historischen Führungsnation, die darunter leidet, dass auf dem Kontinent inzwischen der Nachbar Deutschland tonangebend ist.

Einen schleichenden Niedergang erlebt die französische Wirtschaft schon seit Jahren, ohne dass irgendein Präsident, eine Regierung entschlossen etwas dagegen unternommen hätte. Doch nun funktioniert das Verdrängen nicht mehr. Die Wirtschaft wächst seit fünf Jahren nicht und wird dieses Jahr sogar leicht schrumpfen, 3,26 Millionen Franzosen sind arbeitslos, eine Rekordzahl, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 26,5 Prozent, die Kaufkraft der Bürger ist gesunken, der Konsum, Treiber der französischen Wirtschaft, beginnt zu lahmen. Dagegen können auch die positiven Befunde nichts ausrichten.

Frankreich ist immer noch die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, und die Zinsen für Staatsanleihen liegen seit Monaten auf einem historischen Tiefstand. Das Land steht nicht vor der Pleite, weit davon entfernt, es ist weder vergleichbar mit Italien oder Spanien und erst recht nicht mit Griechenland. Und doch: Frankreich schwächelt. Und das hasst es selbst am meisten, als schwach dazustehen.

Diese Gemengelage kann die ganze europäische Konstruktion gefährden. Zunächst weil immer mehr Verantwortung auf Deutschland lastet, wenn Frankreich weiter abrutscht. "Deutschland kann den Euro nicht dauerhaft schultern", schreibt Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff. "Frankreich muss ein zweiter Anker von Stabilität und Wachstum werden."

Und schließlich, weil die EU in Frankreich so dramatisch an Ansehen verliert wie in keinem anderen Mitgliedsland - innerhalb eines Jahres ist die Zustimmung laut einer Studie des Pew Research Center von 60 auf 41 Prozent gesunken; dazu trägt bei, dass Brüssel Frankreich immer mehr wie ein Problem behandelt und nicht als tragende Säule Europas - und dass viele Bürger die Begriffe Brüssel und Angela Merkel als Synonyme sehen.

Aber ist die EU an Frankreichs Krise schuld? Kann man Europa dafür verantwortlich machen, dass hinter 57 Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung in Frankreich der Staat steckt? Dass die Staatsverschuldung, gemessen an der Wirtschaftsleistung, auf mehr als 90 Prozent geklettert ist? Hat Deutschland irgendetwas damit zu tun, dass es Frankreichs Regierungen seit Jahrzehnten versäumen, die Unternehmen des Landes wettbewerbsfähiger zu machen? Und hat in Brüssel irgendjemand verlangt, der Staat solle in Frankreich ein Fünftel aller Arbeitnehmer beschäftigen?

Frankreich leidet noch immer auf hohem Niveau. Erfolgreiche Großunternehmen sind hier zu Hause - der Luxuskonzern LVMH, der Reifenhersteller Michelin, viele Pharmafirmen; das Land hat ein gutfunktionierendes Gesundheitssystem, die höchste Geburtenrate Europas und eine gesündere Demografie als Deutschland, begünstigt durch Steuerentlastungen von Familien, die Selbstverständlichkeit arbeitender Mütter und das zugehörige System der ganztägigen Kinderbetreuung.

All das kostet Geld, viel Geld, und weil nun die Entscheidungen darüber ausbleiben, welche der Errungenschaften den Franzosen wie viel wert ist und wie ihre liebgewonnenen, allzu luxuriösen Lebensmodelle anzupassen wären an die triste Wirklichkeit, samt 35-Stunden-Woche, Rente ab 60 und bis zu 6200 Euro Arbeitslosengeld, stockt alles, und die schlechte Laune folgt der schlechten Lage auf dem Fuß.

Frankreich ist ein Land mit einer großen Vergangenheit, aus der es zu Recht seinen Stolz zieht, aber der historische Erfolg verhindert auch den klaren Blick auf die Notwendigkeit von Reformen. Reformiert werden müsste längst der allmächtige, aufgeblasene Zentralstaat, der auch die Wirtschaft dirigiert. Die Privilegien der Pariser Politikelite sind so aus der Zeit gefallen, dass sie unerträglich geworden sind, zahlreiche Affären um Schwarz- und Schmiergeld unterminieren die brüchige politische Legitimität.

Es kann kein Zufall sein, dass die führenden Politiker das eigene Land immer öfter als "grande nation" betiteln. Präsident Hollande lässt schon seit dem Wahlkampf kaum eine Gelegenheit aus, die Größe der Nation zu beschwören. Man könnte darin, mit dialektischer Gemeinheit, den Beweis sehen, dass Frankreichs Größe nun museal wird, bestimmt aber kann man darin die Selbsthypnose einer Nation erkennen, deren Statur im Schrumpfen begriffen ist.

"Unsere Soldaten haben unsere Rolle dargelegt", sagte François Hollande kürzlich bei einer großen Pressekonferenz im Elysée, als er einen seiner raren Erfolge lobte, den Militäreinsatz in Mali. "Nämlich die einer großen Nation, die das Gleichgewicht der Welt beeinflussen kann."

Die gespielte Grandiosität des präsidialen Auftritts und der Kleinmut des täglichen Handelns klaffen immer brutaler auseinander. Denn im ganzen Land herrschen Blockade und Verkrustung, die nur durch eine tiefgreifende Erneuerung beseitigt werden könnten. Doch Hollande, der in seinem Wahlkampf den "Wandel" versprochen hatte, ist bisher nicht durch Mut aufgefallen, sondern durch Zaudern.

Spätestens seit diesem Frühjahr gilt Hollande als der nette "Opi" im Elysée-Palast, dem der Mumm fehlt, die gravierenden Strukturprobleme des Landes anzugehen. Kraft Verfassung hat er so viele Kompetenzen wie kein anderer Staatschef der westlichen Welt, außerdem verfügen die Sozialisten über deutliche Mehrheiten in der Nationalversammlung, im Senat und sogar in den Regionen.

Hollande könnte folglich an jedem beliebigen Tag zur Tat schreiten, er könnte das Land reformieren, wie er will, wenn er nur wollte. Doch es weiß niemand - weder die Bürger, noch die Journalisten, noch seine Minister - was und ob er überhaupt etwas will.

Will er der große Reformer Frankreichs sein, traut sich aber nicht, seiner Parteilinken die Stirn zu bieten, wie ein Mitglied der Bundesregierung glaubt. Oder ist er doch den alten Rezepten seiner Partei verhaftet, will so wenig ändern wie möglich und wartet auf den Tag, an dem der Aufschwung von selbst kommt?

Hollande lobte bei der 150-Jahr-Feier der SPD neulich die "mutigen Reformen" von Gerhard Schröder, was in Frankreich für Aufsehen sorgte, doch welche Schlüsse er daraus zieht, bleibt unklar. Denn als die EU-Kommission von Frankreich vergangene Woche die "glaubwürdige Umsetzung ehrgeiziger Strukturreformen" forderte, unter anderem bei Rente, Lohnnebenkosten, Steuern, reagierte er trotzig: Die Kommission habe Frankreich nichts zu diktieren. Man reformiere; aber wie, das entscheide man selbst.

Dabei ist die Kommission den Franzosen weit entgegengekommen. Sie bekommen zwei Jahre Aufschub, bis 2015, um die Neuverschuldung unter drei Prozent der Wirtschaftsleistung zu drücken. Sie sollen nicht gleichzeitig sparen und reformieren müssen. Das ist eine Abkehr von der harten Linie Angela Merkels.

Doch Frankreich reagiert regelmäßig beleidigt, wenn Kritik von außen kommt, insbesondere aus Deutschland. Und genau diese Mischung aus Dünnhäutigkeit und Schneckentempo ist es, die den übrigen Europäern Sorge macht.

Was wäre zu tun? Dafür gibt es Blaupausen, viele. Die letzte stammt vom ehemaligen EADS-Chef Louis Gallois, der für Hollande einen Bericht schreiben durfte, wie die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern sei. Er kommt zu ähnlichen Schlüssen wie die EU-Kommission. Demnach müsste Frankreich dringend seine Lohnnebenkosten senken, die der Hälfte der Bruttogehälter entsprechen. Es müsste sein starres Arbeitsrecht lockern - heute schützt es jene, die einen unbefristeten Job haben, vor jenen, die auf den Arbeitsmarkt drängen, also vor allem Junge, die nur noch prekär beschäftigt werden. Frankreich müsste außerdem sein Renteneintrittsalter erhöhen, seine Steuern senken und vieles mehr.

Die Regierung, die mit ganz anders lautenden und unrealistischen Versprechen gewählt wurde, nahm den Bericht mit lauwarmen Worten entgegen und vermittelt seither den Eindruck eines Zickzackkurses: Zwar beschloss sie tatsächlich einige Reformen - zum Beispiel Steuererleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen und eine vorsichtige Änderung des Arbeitsrechts.

Doch auf der anderen Seite hält die Regierung immer noch an vielen Wahlversprechen fest - darunter die Senkung des Renteneintrittsalters für bestimmte Gruppen auf 60 oder die europaweit kommentierte Reichensteuer von 75 Prozent für Einkommen über eine Million Euro, die der Verfassungsrat umgehend kassierte. Gerade kritisierte der Rechnungshof die Absicht, 60 000 neue Lehrer einzustellen.

Bis März 2013 dauerte es, dass Hollande erstmals klar sagte, die Staatsausgaben müssten sinken und die Franzosen für ihre Rente künftig "ein wenig länger arbeiten". Doch bevor sich etwas tut, sollen nun erst einmal langwierige Verhandlungen mit den Gewerkschaften folgen.

Um das Denken zu verstehen, das Frankreich jahrzehntelang geprägt hat, muss man mit dem Mann sprechen, der im Erste-Klasse-Abteil eines TGV Richtung Alpen rast, von Paris nach Chambéry. Er sieht wie immer blendend aus, der taillierte Anzug sitzt perfekt, die blauen Augen leuchten wie die weißen Zahnreihen. Arnaud Montebourg ist 50, könnte für jünger gehalten werden, er ist Frankreichs Industrieminister, aber sein offizieller Titel passt besser, weil er so pompös ist wie der ganze Mann: "Minister für produktive Wiederaufrichtung". Er besucht heute eine sterbende Fabrik.

Sein Ziel ist die Aluminiumfabrik von Rio Tinto Alcan in Savoyen, die geschlossen werden soll, weil ihre Eigentümer meinen, der Betrieb lohne sich nicht mehr. Montebourg, der selbst noch nie in der Industrie gearbeitet hat, glaubt das nicht. Und er hat sogar ein deutsches Unternehmen gefunden, das die Fabrik und die Arbeitsplätze mit staatlicher Unterstützung erhalten will. Mit seinem Besuch will Montebourg Druck machen für seinen Rettungsplan mit deutscher Hilfe.

"Frankreich hatte einmal eine ruhmreiche Industrie", sagt der Minister. Er kämpfe persönlich gegen die Schreckensvision, die der Schriftsteller Michel Houellebecq in seinem Roman "Karte und Gebiet" beschrieben hat: Darin ist das Frankreich des Jahres 2035 nur noch ein einziger Erlebnispark für Touristen.

Um dies zu verhindern, eilt Montebourg seit seinem Amtsantritt durch ein Land, das um seine Industriebasis fürchten muss: Mehr als tausend Fabriken sind in den vergangenen viereinhalb Jahren geschlossen worden, der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung ist nur noch halb so groß wie in Deutschland.

Montebourg hat in der Riege der Minister die Rolle des Populisten übernommen, während sich andere mit der mühsamen Reform des Ist-Zustands beschäftigen. Er gilt als verfeindet mit dem Premierminister, ist der Liebling der Parteilinken, und Hollande scheint überzeugt, dass es besser sei, Montebourg in der Regierung sitzen zu haben, als ihn Demonstrationen gegen sich anführen zu lassen.

Der Minister glaubt an den Staat. Der habe zwar "keine göttliche Macht", könne aber "viel ausrichten". Frankreich sei eine "Weltmacht", sagt er, es lasse nicht "Katz und Maus" mit sich spielen. So gehört es zu seinem Portfolio, Großunternehmer öffentlich zu beschimpfen und etwa dem Stahlbaron Lakshmi Mittal mitzuteilen, er wolle ihn nicht mehr in Frankreich haben. Das hat für Aufsehen gesorgt, aber bisher keine Arbeitsplätze erhalten.

Zu Beginn des Jahres lieferte er sich einen öffentlichen Briefwechsel mit US-Firmenchef Maurice Taylor - den hatte Montebourg gebeten, ein von der Schließung bedrohtes Reifenwerk zu übernehmen. Taylor antwortete: "Für wie blöd halten Sie uns?" Er habe keine Lust, in ein Land zu investieren, in dem "sogenannte Arbeiter" täglich "nur drei Stunden arbeiten" und er sich dauernd mit Gewerkschaften herumschlagen müsse.

Montebourgs zweiter Gegner ist Deutschland. Das deutsche Wirtschaftsmodell sei "unkooperativ, gefährlich für Frankreich und selbstmörderisch für Europa", schrieb er in seinem Buch "Wählt die Entglobalisierung". Während der Zugfahrt sagt Montebourg, Merkel müsse von der Sparpolitik abrücken und die Europäische Zentralbank die Notenpresse anwerfen, um die Staatsschulden durch Inflation zu verringern - zurückgezahlt würden die ohnehin nie. "Es ist an Deutschland, aus dem Euro auszutreten, wenn es nicht akzeptiert, dass die anderen Länder die Krise lösen."

In Chambéry steigt er in eine schwarze Limousine um, in einem Konvoi aus sechs Wagen fährt er vor der gewaltigen Fabrik von Rio Tinto Alcan vor, in Saint-Jean-de-Maurienne, zwischen nebelverhangenen Bergen. Die Mitarbeiter erwarten ihn im Regen, wie einen Retter. Montebourg macht eine Betriebsbesichtigung, und als er nach einer Stunde wieder in den Regen tritt, erzählt er den Arbeitern noch einmal von der deutschen Firma, die er für sie gefunden habe, steigt wieder in seinen Wagen und braust davon.

Anschließend sagt der Leiter des Bereichs Aluminium von Rio Tinto Alcan: "Der Staat hat natürlich eine Rolle zu spielen, aber ich möchte schon daran erinnern, dass die Fabrik uns gehört."

Doch in der traditionellen französischen Vorstellung von Wirtschaftspolitik ist kein Unternehmen jemals ganz privat, es steht immer im Dienste der Republik. Und so verkörpert Montebourg eine Sicht auf die Welt, wie man sie in abgeschwächter Form bei vielen Mitgliedern der Elite finden kann. Er ist ein geistiger Erbe von Jean-Baptiste Colbert, der im 17. Jahrhundert Finanzminister unter Ludwig XIV. war und dem Colbertismus seinen Namen gab: Der Staat gründet Manufakturen, dirigiert die Wirtschaft und verfolgt eine protektionistische Handelspolitik.

Dieses Erbe prägt Frankreich bis heute. Alle Präsidenten von de Gaulle bis Sarkozy waren zumindest in Teilen vom Colbertismus inspiriert. Freihandel, Marktwirtschaft, Liberalismus sind in Frankreich Schimpfworte. Ist Montebourg der personifizierte Colbertismus? "Colbert hatte eine Perücke, ich nicht", sagt er, lacht laut über seinen Witz und sagt: "Der war gut, oder?"

Wenn Montebourg über Wachstum redet, hat es immer auch etwas mit dem Staat zu tun. So etwa, als er vor einigen Wochen ein Seminar für Zulieferer von Staatsbetrieben abhielt, die über ein jährliches Budget von 60 Milliarden Euro verfügen. Sie müssten nun bevorzugt im eigenen Land einkaufen, um das Wachstum zu fördern, sagte er ihnen. "So wird jeder Staatsbedienstete zu einem Soldaten des ,Made in France'!"

Gern erzählt der Industrieminister auch, wie er die Vorstände der Automobilindustrie vorlud, um mit ihnen festzulegen, welche Firma sich welchem Forschungsbereich widmen solle: Valeo kümmert sich um das selbstfahrende Auto, Peugeot um Hybridantriebe und die übrigen um das Wasserstoff- und das Elektroauto.

Nichts illustriert das Verhältnis Frankreichs zur Wirtschaft besser als das raumschiffartige Finanz- und Wirtschaftsministerium im Pariser Stadtteil Bercy an der Seine, ein ungeheurer Gebäudekomplex, in dem zurzeit sieben Minister amtieren, von denen jeder irgendetwas mit Wirtschaft macht. Bercy, wie diese ministeriale Kleinstadt kurz genannt wird, ist ein in Beton gegossenes Monument des französischen Wirtschaftsdirigismus.

Zwei Stockwerke über Montebourg sitzt hier, zu dessen Leidwesen, auch Wirtschaftsminister Pierre Moscovici, der wie der Premierminister und der Präsident versucht, einen Mittelweg zwischen französischer Tradition und europäischen Forderungen zu finden. Das Verhältnis der beiden Männer ist angespannt. Zusammen bilden sie das Janusgesicht der französischen Regierung: Der eine wettert dauernd gegen Austerität und die EU-Kommission, der andere reist durch Europa und versichert in einem fort, es sei Frankreich ernst damit, ein "seriöses Budget" haben zu wollen.

Als Stahlbaron Lakshmi Mittal im vergangenen Oktober ankündigte, die Hochöfen in Florange stillzulegen, kam es in der Regierung zu dramatischen Szenen. Montebourg wollte die unrentable Produktionsstätte verstaatlichen, Hollande schlug es ihm ab. Nur mühsam konnte der Minister davon abgebracht werden, seinen Rücktritt einzureichen.

Diese psychologischen Dramen sagen viel aus über den Grad der Realitätsanpassung, den die französische Linke seit ihrem Amtsantritt durchlebt. Es stimmt, dass Hollande ein schweres Erbe antritt: Ausgerechnet ein Sozialist muss nach 17 Jahren konservativer Regentschaft die Drecksarbeit machen. Das ist umso schwieriger in einem Land, in dem Linkssein noch die überhöhte Bedeutung von überlegener Moral und besserer Welt hat.

Hollande war unfähig, die Euphorie über den Machtwechsel zu entschlossener Aktion zu nutzen. Nun revoltiert bereits der linke Flügel seiner Partei und klagt über die "Austerität", die im Land herrsche. Dabei gibt es in Frankreich anders als etwa in Griechenland, das deutlich Staatsausgaben gestrichen hat, bisher keine Austerität - und es wird sie nach dem Aufschub durch die Kommission wohl auch vorerst nicht geben.

Vor allem leidet die französische politische Klasse darunter, dass sie in einem deutsch geprägten Euro-Raum nicht länger ihre traditionellen Vorstellungen einer schuldenfinanzierten Wirtschaft umsetzen kann, wofür freilich allein schon der dauernde Druck der Finanzmärkte sorgt. Und so muss François Hollande nun in Europa zu einer ähnlichen Politik finden wie sein Vorgänger Sarkozy, obwohl er den Wählern eine Neuausrichtung versprochen hatte. Die Wut mancher Sozialisten über diesen Umstand entlud sich in den vergangenen Wochen öffentlich: Prominente Parteimitglieder forderten den Präsidenten auf, die "Konfrontation" mit Deutschland zu suchen.

Doch als sich Angela Merkel und François Hollande vergangene Woche in Paris trafen, demonstrierten sie Einigkeit. Sie präsentierten sogar erstmals seit der Abwahl Sarkozys ein gemeinsames deutsch-französisches Papier für den EU-Gipfel im Juni.

Das ändert jedoch nichts daran, dass in den Augen vieler Sozialisten Deutschland an der Krise schuld ist. Nicht nur wegen des mittlerweile abgeschwächten Spardiktats in Europa, sondern auch wegen des deutschen Wirtschaftsmodells: Die Deutschen betrieben eine unfaire, egoistische Exportpolitik mit Niedriggehältern - ähnliche Kritik wird von der Rechtspopulistin Marine Le Pen über Arnaud Montebourg bis ins konservative Lager geäußert.

Deutschland wird von französischen Linken als ein Ort gemalt, an dem soziale Not herrscht; auch Mitarbeiter Hollandes reden gern von den deutschen Armutszahlen, die allerdings gar nicht so viel über den französischen liegen. Sie sagen, sie glaubten nicht an das deutsche Exportmodell für alle, sie wollten das europäische Sozialmodell bewahren.

In den vergangenen Monaten nahm die Germanophobie in der Öffentlichkeit teilweise besorgniserregende Züge an. Während des Präsidentschaftswahlkampfs hatte es noch für Aufsehen gesorgt, dass Montebourg Angela Merkel eine "Politik nach bismarckscher Art" unterstellte. Es regte aber kaum jemanden auf, als der bekannte Intellektuelle Emmanuel Todd neulich in einer Talkshow sagte, es sei Ziel der deutschen Wirtschaftspolitik, seine Nachbarn "zu vernichten".

Als Kandidat war François Hollande noch von der ernsthaften Überzeugung getrieben, dass er als Präsident die Kanzlerin in Europa zum Einlenken bringen werde. Stattdessen ist die französische Stimme auf europäischer Ebene leiser geworden. Einst waren Pariser Diplomaten in Brüssel tonangebend. Doch als Finanzminister Moscovici bei Beratungen der Finanzminister zum Rettungspaket für Zypern offenbar einschlief, fiel es niemandem auf, IWF-Chefin Lagarde musste ihn wecken. Manch einer meinte, darin einen Beleg für den französischen Bedeutungsverlust in Europa zu sehen. Moscovici dementierte erzürnt auf Twitter: Er sei nicht eingeschlafen, das sei "French bashing", schrieb er, ein "Auf-die-Franzosen-Einprügeln". Der Begriff fällt in letzter Zeit oft, wenn Kritik aus dem Ausland beiseitegeschoben werden soll.

Denn Frankreichs Angst, keine bedeutende Rolle mehr zu spielen in der Welt, ist real. Das ist umso schlimmer, weil es sich mit seiner 1500-jährigen Geschichte, mit seiner "civilisation française" als natürliche Führungsnation sieht. Frankreich unterhält immer noch ein kostspieliges Rest-Kolonialreich, verstreut über den halben Erdball. Zu dem Gefühl, nicht einfach nur ein normales Land zu sein, tragen auch die imperialen Pariser Paläste bei. Nützt es der Demokratie wirklich, wenn sie in einer monarchischen Kulisse zelebriert wird?

Das größte Problem Frankreichs seien nicht Wirtschaftsreformen, wie Deutschland sie fordere, sondern ein Mangel an demokratischer Kultur, sagt der Journalist Edwy Plenel. Er sitzt im Konferenzraum eines Bürogebäudes im schäbigen Osten von Paris, sein Markenzeichen ist ein wuchtiger Schnurrbart. Plenel war in seiner Jugend Trotzkist, ist 60 Jahre alt und betreibt die Internetzeitung "Mediapart", die fast alle großen französischen Politikskandale der vergangenen Jahre ins Rollen gebracht hat - auch den vielleicht verheerendsten von allen, den Fall Jérôme Cahuzac.

Ein Haushaltsminister, der ein Schwarzgeldkonto in der Schweiz unterhielt, was er bis zuletzt mit heiligem Ernst leugnete, das übertraf alles, was man an Unanständigkeit gewohnt war. Schon der Fall Dominique Strauss-Kahn erlaubte zuvor Einblicke in das Gebaren einer Elite, die sich über dem Gesetz glaubt. Dass viele Politiker immer wieder in undurchschaubare Finanzskandale verwickelt sind, damit haben sich die Bürger längst achselzuckend abgefunden.

Der Fall Cahuzac, sagt Plenel, zeige in fast schon chemischer Klarheit, dass die französische Demokratie nicht richtig funktioniere. "Die Demokratie, das sind nicht nur die Institutionen", sagt er, "sondern auch die Art, sie zu leben."

In diesem Fall habe das gesamte Räderwerk versagt: Nachdem "Mediapart" im Dezember über das Schweizer Konto des Ministers berichtet hatte, glaubten die übrigen Medien, denen Plenel "Regierungsjournalismus" vorwirft, lieber dessen Lügen. Weder der Präsident noch das Parlament, samt Opposition, seien tätig geworden. Die Justiz habe sich erst bewegt, als "Mediapart" Anzeige erstattet habe. "So entsteht für die Öffentlichkeit der Eindruck einer französischen Oligarchie, die zusammenhält", sagt Plenel.

Seit 30 Jahren arbeitet er als einer von Frankreichs wenigen investigativen Journalisten. Lange Jahre war er bei "Le Monde", unter anderem als Chefredakteur, bis er nach seinem Abgang "Mediapart" gründete - mittlerweile hat er 45 Mitarbeiter und macht im dritten Jahr Gewinn. Er verteidige den Beruf des Journalisten, wie er ihn verstehe - doch damit werde er in Frankreich als eine Art Skurrilität angesehen. Das Grundübel Frankreichs, sagt Plenel, sei der Präsidentialismus. "Wir vertrauen alles einem einzigen Mann an, anstatt unsere Demokratie zu stärken."

Frankreich habe die absoluteste Monarchie des Kontinents gehabt, bis die Revolution sie hinwegfegte, doch ihr folgte die Diktatur Napoleon Bonapartes. So sei die Idee der Herrschaft eines Einzelnen ins Herz der nachrevolutionären Politik eingepflanzt worden. "Unsere ganze weitere Geschichte ist davon geprägt. Leider war auch General de Gaulle ein Bonapartist."

Das Amt des französischen Präsidenten wurde 1958 eigens auf Charles de Gaulle zugeschnitten. Als Kriegsheld verfügte er über die Statur eines demokratischen Ersatzkönigs. Doch es ist schwierig, das Amt für die heutige Zeit auszulegen: Sarkozy versuchte, die bestehenden Konventionen in einem ständigen Zustand der Erregung zu durchbrechen, verprellte damit aber das Volk. Bei Hollande scheint der große Thron dagegen eine Neigung zum Phlegma zu verstärken, zugleich hat er Mühe, ihn auszufüllen.

Doch immer noch steht der Präsident im Zentrum der Gesellschaft, und die Pariser Eliten gleichen einem abgeschotteten Hofstaat: Wer einmal dazugehört, gehört für immer dazu. Umso schwieriger ist es reinzukommen. Seit Jahrzehnten steht dasselbe Personal nicht nur an der Spitze von Wirtschaft und Politik, selbst in Kultur und Wissenschaft gibt es kaum Erneuerung.

Während die Oberschicht von klein auf gedrillt wird, solche "grandes écoles" zu besuchen, durch die man erst Karriere machen kann im Staat, gibt es für die Unterschicht nur theoretisch einen Weg nach oben. Und schon gar nicht für eine ganze Generation von Einwandererkindern, die in den ghettoähnlichen Vorstädten von Paris, Marseille oder Toulouse aufwachsen, vom Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschlossen, und denen die Republik kaum eine Perspektive aufzeigen kann. Wenn sie Schlagzeilen machen, dann nur mit Schreckensmeldungen: Da gibt es die Banden, die sich in Marseille auf offener Straße Feuergefechte mit Kalaschnikows liefern. Oder den Fall Mohamed Merah, der in Toulouse zum Terroristen wurde.

Die Angst der Franzosen vor der Zukunft, ihre Wut auf die Eliten, die Krise und die Zuwanderer - von alldem profitiert eine Nutznießerin: Marine Le Pen, die Anführerin des rechtspopulistischen Front national. Sie könnte heute bei Präsidentschaftswahlen laut Umfragen im ersten Durchgang sogar François Hollande schlagen.

Doch es ist noch eine neue Kraft entstanden in der rechten Hälfte der Gesellschaft. Sie ist die größte Überraschung von Hollandes Präsidentschaft, und er hat sie sich selbst geschaffen. Wissend, dass er seine Linke wirtschaftspolitisch nicht würde zufriedenstellen können, schenkte er dem Land eine gesellschaftspolitische Revolution: die Ehe für Schwule und Lesben. Sie ist mittlerweile Gesetz, doch statt sein eigenes Lager zu mobilisieren, befeuerte Hollande die Opposition.

Zu Hunderttausenden ist eine bisher nie in Erscheinung getretene Koalition an drei Sonntagen auf die Straße gegangen, sie reicht von traditionellen Katholiken über die extreme Rechte bis in die konservative Mitte.

Das rechte und das linke Lager bekämpfen sich in Frankreich seit der Revolution, ihre Auseinandersetzung hat etwas Folkloristisches. Auch das macht Kompromisse so schwierig. Und weil Rechtssein in Frankreich kein Privileg der Alten ist, gehören dazu auch massenhaft Junge, viele von ihnen aus den reichen, konservativen Arrondissements im Westen von Paris.

Es geht dabei nicht nur um die Homo-Ehe. Der Widerstand gegen sie verbindet sich in Frankreich, ähnlich wie bei den Tea-Party-Aktivisten in den USA, mit dem Gefühl, die Linke sei an der Macht nicht legitim. Es zeigt sich die Empfindlichkeit einer verunsicherten Gesellschaft, die auf beiden Seiten des Spektrums leicht entflammbar ist. Es zeigt sich die Verletzbarkeit eines Präsidialsystems, wenn der starke Mann an der Spitze als schwach empfunden wird.

Der Riss, der durch die Gesellschaft verläuft und sogar die Konservativen spaltet, wird für den Präsidenten kaum zu überwinden sein. Auch für die kommenden Monate haben die radikalsten Gegner Proteste angekündigt. Sollte Hollande dann tatsächlich irgendwann mit echten wirtschaftlichen Reformen beginnen, sollten die Franzosen eines Tages echte Opfer bringen müssen, dann wird wohl auch die Linke zum Widerstand auf die Straße rufen.

François Hollande, in seinem Schloss, wird dann lernen, was es heißt, einsam zu sein.

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