Die Rebellen haben die Nafusa-Berge an der tunesischen Grenze erobert und stehen 80 Kilometer vor Tripolis. Doch ihr Vormarsch ist erlahmt. Sichtbar werden nun Stammeskonflikte, die sich zum Bürgerkrieg ausweiten könnten. Von Mathieu von Rohr
Die entscheidende Front im Krieg gegen Muammar al-Gaddafi verläuft durch ein staubiges Nest namens Kawalisch: Eine Moschee, ein paar Dutzend Häuser und Erdhügel, hinter denen sich die Kämpfer der Rebellen verschanzen, das ist alles.
Es ist nicht auf den ersten Blick zu verstehen, warum an diesem gottverlassenen Ort schon mindestens 15 Rebellen ihr Leben ließen und warum in Kawalisch in zwei Wochen dreimal die Besatzer gewechselt haben.
Musbah Milad, ein Kämpfer aus Sintan, steht in der Mittagshitze auf dem Dach eines zweistöckigen Hauses. Er blickt über die Steppe und zeigt auf eine Baumreihe am anderen Ende der weiten Ebene. "Dort drüben steht er", sagt er, "der verdammte Gaddafi." Durch sein Fernglas sind zwei im Baumschatten verborgene Trucks zu sehen, vielleicht sechs Kilometer entfernt. Manchmal feuern Gaddafis Leute eine schlecht gezielte Rakete ab, dann schießen die Rebellen zurück.
Das Schicksal des Diktators Muammar al-Gaddafi entscheidet sich in diesen Tagen und Wochen in winzigen Dörfern mit unaussprechlichen Namen in den Nafusa-Bergen im Westen Libyens. Es ist ein Landstrich, von dessen Existenz kaum jemand wusste, bevor im Februar die libysche Revolution begann.
Die Offensive der Rebellen ist in diesem hügeligen Hochland so weit vorangekommen wie nirgendwo sonst seit Ausbruch des Krieges. Im Osten des Landes stecken sie noch immer bei Brega fest, einer Stadt, die sie im Februar zum ersten Mal erobert hatten, nur um sie kurz darauf wieder zu verlieren. Sie liegt mehr als 600 Kilometer von Tripolis entfernt.
Im Westen hingegen haben die Rebellen fast die gesamte Bergkette eingenommen, sie haben einen wilden Staat gegründet, mit Zeitungen, einem Radiosender und einem Flugfeld. Er erstreckt sich von der tunesischen Grenze über 200 Kilometer nach Osten. Am nördlichen Ende der Hügelzüge stehen die Kämpfer nur 80 Kilometer vor der Hauptstadt.
Doch die wichtigste Front liegt hier, in Kawalisch. Wenn die Rebellen in den nächsten Ort vorstoßen sollten, 30 Kilometer entfernt, könnten sie Gaddafis wichtigsten Nachschubweg abschneiden, die Straße von Sabha nach Tripolis.
Die Rebellen sind allerdings seit Wochen nicht mehr vorangekommen. Sie eroberten Kawalisch Anfang Juli, verließen siegestrunken die Front, kehrten zurück in ihre Dörfer, vor Ort blieben ein paar 16-Jährige mit Kalaschnikows. Sie sollten die Stellung halten, aber sie hatten keine Chance, als Gaddafis Truppen am Mittwoch vorvergangener Woche angriffen.
Es folgte eine sechsstündige Schlacht, in der die Rebellen alle Kräfte mobilisierten, sie kamen angerast aus Sintan, aus Dschadu und Kikla, zurück an die Front, die sie so sträflich entblößt hatten. Am Ende eines blutigen Tages hatten sie Kawalisch wieder in ihrer Gewalt, trotz heftigen Raketenbeschusses, acht Männer starben. Es war ein seltsamer Kampf, und er zeigte, wie wenig Gaddafis Gegner auch im Westen von Gefechtsführung verstehen, eine motorisierte Horde, die nach vorn stürmt, wenn sie gebraucht wird, und sich dann zerstreut.
Seither haben die Rebellen nichts unternommen, um weiter nach Osten vorzudringen. In einer Woche beginnt der Fastenmonat Ramadan, dann dürfen sie tagsüber nichts mehr essen und nichts trinken, bei 45 Grad im Schatten. Manche sagen, sie hielten sich zurück, weil Gaddafis Kämpfer Tausende Minen in der weiten Steppe zurückgelassen haben, manche sagen, sie wollten die Gaddafi-treuen Zivilisten im nächsten Ort schonen.
Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass die Rebellen im Westen langsam an die Grenze ihrer Kräfte gelangen. Selbst ihre Militärführung in Sintan gibt zu, dass es keine Pläne gibt, von den Bergen in die Ebene zu stoßen und den Marsch auf Tripolis zu wagen. Sie warten auf eine Revolte in der Hauptstadt.
Die Wahrheit ist, dass der Aufstand gegen Gaddafi jeden Tag mehr die Anzeichen eines Bürgerkriegs trägt. Zunächst sah es so aus, als ob die Libyer sich gemeinsam erhoben hätten gegen den Mann, der seit 42 Jahren den Staat lenkt. In den Nachbarländern Tunesien und Ägypten begann der Aufstand Mitte Februar mit Demonstrationen, doch dieser Diktator ließ sich nicht stürzen, sondern antwortete mit einem Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Das war der Grund für den Einsatz der Nato.
In den Nafusa-Bergen zeigt sich, dass die Wirklichkeit komplizierter ist. Libyen ist kein Nationalstaat wie seine Nachbarländer, es ist eine Stammesgesellschaft, und das macht alles so schwierig.
Die Mehrheit der Libyer mag gegen Gaddafi sein, und doch gibt es immer noch bedeutende Stämme, deren Angehörige mehrheitlich zu ihm halten, darunter die Warfalla, die Tarhuna und Gaddafis eigener Stamm, die Gadadifa. Und auch wenn die Rebellen davon offiziell nichts wissen wollen, so ist dieser Krieg auch ein Krieg zwischen Stämmen.
Die Rebellen waren in den Bergen so erfolgreich, weil hier die meisten Stämme Gaddafi feindlich gesinnt sind. Sie haben in den vergangenen Monaten ihre traditionellen Gebiete freigekämpft, im Westen der Berge die Berber, die Ureinwohner des Landes, denen Gaddafi verbot, ihre Sprache zu sprechen. Im Osten sind die meisten Rebellen Araber, die zum großen Stamm der Sintan und ihren Verbündeten gehören.
Sintan ist ihr Hauptort, hier liegt das Zentrum der Rebellion im Westen, von hier stammen die meisten Kämpfer und die meisten Toten. Es ist eine Kleinstadt von vielleicht 25 000 Einwohnern, ein Gewirr von engen Straßen, an denen in diesen Tagen aus Tunesien geschmuggeltes Benzin in Kanistern angeboten wird, wo es aber kaum Brot zu kaufen gibt. Frauen sind keine zu sehen, dafür bärtige Männer, die Waffen zur Schau stellen und selbstgebastelte Kriegsfahrzeuge fahren. Hier lebt ein rauer, herzlicher Menschenschlag. Fremde werden mit Essen beschenkt, obwohl es knapp ist, und niemand würde für eine Unterkunft Miete verlangen.
In Sintan hat der Militärrat seinen Sitz, die nominelle Führung der Rebellenarmee im Westen. Vergangene Woche war hier Omar Hariri zu Besuch, der Militärkoordinator des Nationalen Übergangsrats. Aber viele Kämpfer aus Sintan nehmen von diesen Funktionären keine Befehle an, sie hören nur auf ihr eigenes Kommandozentrum.
Es ist Gaddafis Armee, die in diesem Krieg die großen Verbrechen begangen hat. Doch wer der Straße folgt, die sich 50 Kilometer von Sintan zur Front in Kawalisch erstreckt, sieht, dass auch die Rebellen sich nicht vorbildlich verhalten.
Mehrere Orte liegen vollkommen entvölkert da. Einer von ihnen ist Awanija, das einmal rund 15 000 Einwohner hatte, bis die Rebellen es eroberten. Die Geschäfte, die an der Überlandstraße liegen, sind restlos geplündert und vermüllt, oft fehlen selbst die Regale, und wenn man tiefer in den Ort hineinfährt, zeigt sich, dass auch die Wohnhäuser leergeräumt und schwer verwüstet sind, manche wurden in Brand gesetzt. Die nächsten Ortschaften sehen ähnlich aus, selbst Tage nach der Eroberung stehen neue Häuser in Flammen, und Lieferwagen transportieren ab, was bei den ersten Plünderungen vergessen wurde: Säcke mit Weizen, Lebensmittel, Schafe.
An einem leergeräumten Supermarkt in Awanija steht eine Parole, in der "Maschaschija-Verräter" beschimpft werden. Die Maschaschija sind der Stamm, der Awanija und zwei weitere umliegende Ortschaften bewohnte. Er hält mehrheitlich zu Gaddafi, wie auch die Bewohner der übrigen entvölkerten Orte an der Straße zwischen Sintan und der Front.
Human Rights Watch hat in einem Bericht die Rebellen wegen der Plünderungen und Brandstiftungen scharf kritisiert. Ein Sprecher des westlibyschen Militärrats gibt im Gespräch zu, dass es vereinzelt zu solchen Vorfällen gekommen sei. Doch die Rebellen hätten nur Häuser angezündet, in denen sich Gaddafis Truppen eingenistet hätten.
Wenn jemand Nachforschungen betreibt, reagieren die Rebellen aggressiv, ein SPIEGEL-Team wurde in Awanija festgesetzt, zum Kommandoposten eskortiert und verhört.
Wer die Probleme zwischen den Maschaschija und den Sintan verstehen will, sollte den Ältestenrat von Sintan besuchen, einen Kreis von mehr als einem Dutzend alten Männern in weißen Kutten. Sie halten ihre Sitzungen in einem Verwaltungsgebäude im Stadtzentrum ab.
Das Land, das die Maschaschija bewohnten und auf dem sie ihre Häuser errichteten, sagen sie, gehöre ihnen nicht. Es sei Land, das sie anderen Stämmen gestohlen hätten, den Sintan, den Chuleifa, den Kikla. Sie seien Schafhirten, das besage schon ihr Name, er bedeute "Geher". Sie hätten nie Land besessen, und seien auch nicht von hier, sie stammten aus dem Süden Libyens.
Es sei Gaddafi gewesen, der ihnen dieses Land in ihrer Nachbarschaft in den siebziger Jahren gegeben habe, und deswegen hielten die Maschaschija zu ihm. Sie sagen, Gaddafi habe Zwist gesät in ihren Tälern, um die Stämme gegeneinander auszuspielen und seine eigene Macht zu sichern.
Die Männer sprechen von alten Besitzurkunden aus italienischer Zeit, die beweisen sollen, welchen alteingesessenen Stämmen das Land gehöre, sie reden von Karten der französischen Kolonialherren in Algerien, die das weite Stammesgebiet der Sintan zeigten und auf denen von Maschaschija keine Rede sei.
"Wir kannten schon früher die Tricks der Maschaschija", sagt einer. "Manchmal sind sie in leerstehende Häuser eingezogen, in der Nähe errichteten sie Grabsteine und behaupteten, hier lägen ihre Vorväter. Zur Zeit der Kolonie haben sie für die Italiener als Spitzel gearbeitet."
In Sintan heißt es, die Maschaschija hätten von Gaddafi profitiert, während Sintan unter Vernachlässigung gelitten habe. Ihre Feindschaft schlummerte jahrzehntelang im Verborgenen. Man heiratete nicht untereinander, man ging sich aus dem Weg, und manchmal kämpfte man vor Gericht um Land. Doch dann brach die Revolte aus, und die Maschaschija bekannten sich zu Gaddafi.
Die Ältesten von Sintan berichten, sie hätten verhandelt mit den Ältesten der Maschaschija, dreimal seit April, und diese hätten eingewilligt, neutral zu bleiben. Doch Gaddafis Soldaten hätten Awanija als Basis für ihre Panzer benutzt und die Zivilbevölkerung Sintans und der umliegenden Dörfer monatelang von dort mit Grad-Raketen beschossen. Seither führen die Stämme gegeneinander Krieg.
Die Maschaschija dürften nur zurückkehren, wenn sie beweisen könnten, dass das Land ihnen gehöre, sagen die Ältesten von Sintan, aber das könnten sie nicht. Wenn man die Kämpfer fragt, sind viele noch eindeutiger: Wir mögen sie nicht, heißt es, "sie sollen verschwinden".
Es gibt auf dieser Seite der Front keine Angehörigen dieses Stammes mehr, die man zu alldem befragen könnte. Die einzigen Maschaschija, mit denen man sprechen kann, sitzen im Gefängnis von Sintan. Einer gibt zu, dass die meisten seines Stamms für Gaddafi seien, der andere bestreitet es. Keiner von beiden will für Gaddafi gekämpft haben. Sie sagen, sie seien nur wegen ihrer Stammeszugehörigkeit im Gefängnis.
Die Militärführung der Westrebellen spricht trotzdem noch vom gemeinsamen Kampf aller Libyer gegen Gaddafi, sie will den Aufstand nicht als Stammesangelegenheit erscheinen lassen. Und sicherlich sind diese Streitigkeiten auch nicht der Grund für die Rebellion. Es reicht, sich die ungleiche Verteilung des Ölreichtums im Land anzusehen, die Perspektivlosigkeit der Jugend, die Vetternwirtschaft und die Repression des Regimes, um zu verstehen, warum es dazu kam.
Aber das Stammeswesen ist einer der wichtigsten Gründe, warum Gaddafi sich immer noch an der Macht hält. Gaddafi verstand es, die Stämme gegeneinander auszuspielen, und viele haben von ihm profitiert. Deswegen ist die Gefahr eines Bürgerkriegs so groß.
Es finden große Wanderungsbewegungen statt seit dem Beginn des Aufstands. Tausende junge Männer sind in die Berge zurückgekommen aus dem Rest Libyens, aus der ganzen Welt, um in diesen staubigen Hügeln für ihre Stämme zu kämpfen und gegen Gaddafi. Viele Kämpfer, die für die Sintan in die Schlacht ziehen, wollen sich nicht fotografieren lassen, weil sie aus Tripolis gekommen sind und ihre Familien sich noch dort befinden.
Ein 22-Jähriger namens Ahmed Hanna erzählt, dass er auf einem Öltanker arbeitete und sich in Frankreich an Land befand, als der Krieg ausbrach. Er kehrte ebenso heim wie Hani Mahluf, ein 29-jähriger Berber, der bis vor kurzem in Kuala Lumpur an einer Doktorarbeit über Überschallflugzeuge saß. Er habe nicht dort bleiben können, sagt er, sein Platz sei hier, an der Front in Kawalisch.
Hani kann in einem erschütternd einfachen Satz erklären, was sich in den Bergen abspiele: "Dies ist ein Krieg, der gefochten wird zwischen den Stämmen, die ursprünglich von hier sind, und den Leuten, die erst vor 50 oder 60 Jahren kamen."
Die Rebellen erzählen, dass auch für Gaddafi längst nicht mehr nur Söldner und Soldaten kämpfen, sondern mehr und mehr Freiwillige. Es sind keine Heere, die sich in den Bergen gegenüberstehen. In der großen Schlacht um Kawalisch in der vorvergangenen Woche kämpften nicht viel mehr als tausend Mann auf der Seite der Rebellen, die Truppen Gaddafis dürften kaum zahlreicher sein.
Mit so einer kleinen Armee ist es unmöglich, größere Gebiete einzunehmen und zu halten, wohl deswegen rücken die Rebellen nicht weiter vor in Kawalisch. Die Bewohner der folgenden Dörfer gelten als Gaddafi-treu, von ihnen können sie keine Hilfe erwarten.
Am nördlichsten Punkt der Front, einem Zementwerk vor der Stadt Bir al-Ghanam an der Nordflanke der Berge, 80 Kilometer vor Tripolis, sind in der vergangenen Woche nur ein paar Dutzend Kämpfer zu sehen. Sie haben sich im Berg eingegraben, am Vortag sind sie angegriffen worden, sie haben stundenlang gekämpft, aber ihre Positionen gehalten.
Ein Kämpfer, der Mohammed heißt, ein 21-Jähriger, der Informatik studierte, bevor er zum Scharfschützen wurde, sagt, Gaddafi habe dort unten nur 300 Soldaten stationiert. Er deutet auf das Dorf, auf eine Mauer. "Dort sitzen sie", sagt er, "ich kann sie mit bloßem Auge sehen. Wahrscheinlich rauchen sie."
Er sagt, dass sie manchmal Raketen hinunterfeuerten, einfach nur, weil sie gelangweilt seien, und er beschließt, es vorzumachen. Als Abschussrampe benutzen sie den Fuß eines Heimtrainers, sie richten die Rakete aus und verbinden das Zündkabel mit einer Autobatterie. Nichts passiert. Sie probieren es zweimal, dreimal, viermal, vergebens.
Erschöpft von der Hitze, setzen sie sich wieder in den Schatten hinter dem großen Fels. Sie warten.
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