Warum sich Frankreich in der Krise an seiner vergangenen Größe aufrichtet.
Von Mathieu von Rohr
Vor ein paar Wochen sprach François Hollande im Garten der französischen Botschaft in Rom. Er hatte sich nachmittags mit dem Spanier Mariano Rajoy, der Deutschen Angela Merkel und dem Italiener Mario Monti getroffen und sich wieder einmal den deutschen Forderungen nach Reformen widersetzt. Jetzt, am Abend, hielt er eine Rede, in der er ausgiebig den Niedergang des Französischen als einer internationalen Sprache betrauerte. Es klang seltsam nostalgisch, als wünschte er sich, den globalen Siegeszug des Englischen doch noch aufzuhalten.
Beide Auftritte in Rom hatten mehr miteinander zu tun, als es auf den ersten Blick scheint. Wer verstehen will, warum Frankreich derzeit ein so schwieriger Partner in Europa ist, muss wissen, dass das Land, das Hollande vertritt, ein altmodisches Land ist, noch dazu eines, das in die Tatsache, altmodisch zu sein, hoffnungslos verliebt ist. Es lebt in der Vergangenheit, und wenn es auch weiß, dass es in Schwierigkeiten steckt, möchte es sich doch nicht verändern.
Frankreich ist die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, und die Anleger zahlen im Moment sogar dafür, dem Land Geld zu leihen. Aber Frankreich gehört zu den wirtschaftlich kranken Ländern Europas. Seine Wettbewerbsfähigkeit hat seit den neunziger Jahren stetig abgenommen, die Arbeitslosenquote hat zehn Prozent überschritten, die Staatsschulden liegen bei 89 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Zwar ist Frankreich weit davon entfernt, ein Krisenland wie Spanien oder Italien zu sein, aber eines Tages könnte es dem Land ähnlich ergehen wie seinen Nachbarn im Süden - wenn es nicht bald etwas unternimmt. Deshalb befindet es sich, was die Rettung des Euro betrifft, in einer Schlüsselposition.
Frankreichs Problem aber ist, dass es sich nicht entscheiden kann, ob es zum Norden oder zum Süden gehören will.
Einerseits misst sich das Nachbarland, was Wirtschaftskraft und politische Bedeutung angeht, geradezu obsessiv an Deutschland. Seine Politiker lassen wenig Zweifel daran, dass sie sich als Vertreter des in ihren Augen wichtigsten Landes Europas sehen. Aber zugleich mag Frankreich an sich selbst vor allem seine südliche Seite. Es sieht sich als mediterranes Land, ist stolz auf seine Lebensart, und darin fühlt es sich den Deutschen - und dem Rest der Welt - überlegen.
IM PARISER ALLTAG ist beides zu sehen: Da ist eine Geschäftswelt, die ohne ausgedehnte Mittagessen nicht vorstellbar ist. Es gibt Angestellte, die genehmigen sich über 40 Urlaubstage. Aber viele Arbeitstage dauern länger als in Deutschland. Und es gibt ein Elitebewusstsein an der Spitze der Gesellschaft, das hart erarbeitet ist, in Kaderschulen und Spitzenuniversitäten.
Wer dagegen durch die Provinz fährt, durch die Dörfer der Corrèze etwa, wo der alte Wahlkreis von Präsident Hollande liegt, stößt auf eine Welt, in der die Zeit seit Jahrzehnten stillzustehen scheint. Das Unmoderne an Frankreich ist faszinierend und zugleich Anlass zur Verzweiflung. Dieses Land sieht keinen Grund, sich dem Rest der Welt anzupassen, und es wird bockig, wenn der Rest der Welt genau das von ihm fordert.
Eine Rolle in der Welt will Frankreich zwar spielen, aber nur, wenn es selbst den Ton angibt und die Bedingungen stellt, so wie früher, als es eine wirkliche Weltmacht war. Frankreich kann Krieg in Libyen führen, aber die Lohnnebenkosten zu senken, das kriegt keine französische Regierung hin.
Es ist bezeichnend, dass Hollande nie das Wort "Reform" benutzt, wenn er davon spricht, Frankreich wirtschaftlich wieder erfolgreich zu machen. Er spricht von "redressement". Man kann das mit "Sanierung" übersetzen, wörtlich heißt es aber "Wiederaufrichtung". Das klingt nicht nach Anstrengung, eher nach einem Kranken, der die richtige Spritze braucht.
Seit er an der Macht ist, hat Hollande die wenigen echten Strukturreformen der vergangenen Jahre zum Teil zurückgenommen. Das Renteneinstiegsalter ist für manche Arbeiter gesenkt worden, und wer länger arbeiten will, als es die gesetzlichen 35 Stunden zulassen, muss dafür künftig Steuern zahlen. Die Staatsquote von 56 Prozent, die Lohnnebenkosten von 50 Prozent will der neue Präsident nicht unbedingt senken; sein Problem sind offenbar nicht die zu hohen Staatsausgaben, sondern die zu geringen Einnahmen.
Nun zeigt sich, was Hollandes Versprechen eigentlich bedeutete, er werde ein "normaler Präsident" sein. "Normal" heißt: so, wie es immer war.
Frankreich ist im Kern ein zutiefst konservatives Land. Das hat auch etwas Liebenswertes. Hier haben Dinge überlebt, die ansonsten nirgendwo mehr existieren in Europa.
Da gibt es in der Politik den folkloristischen Schlagabtausch zwischen links und rechts, wie ihn der restliche Kontinent seit 1989 nicht mehr kennt. Bürger, Politiker, Medien wissen alle, wo sie stehen. Die beiden Lager zelebrieren in Frankreich ihren ideologischen Gegensatz, während in anderen Ländern längst nicht mehr so klar ist, wo die Gräben verlaufen.
ZUGLEICH VERBINDET BEIDE LAGER der Glaube an die ordnende Hand des Staates. Er kann und muss die Wirtschaft lenken. Als neulich der Peugeot-Citroën-Konzern PSA den Abbau von 8000 Stellen in Frankreich bekanntgab, forderte der Präsident sofort eine "Neuverhandlung", obwohl der Staat keine einzige Aktie besitzt. Der Globalisierungsgegner Arnaud Montebourg, "Minister für produktive Wiederaufrichtung", bestellte den Firmenerben ein und verpasste ihm eine öffentliche Abreibung (siehe Seite 56).
Auch die Sehnsucht nach Protektionismus ist von links bis rechts tief verankert. Die Angst vor der Globalisierung ist ein nationales Phänomen, 60 Prozent der Franzosen fürchten die Abwanderung der Arbeitsplätze.
Am liebsten wäre ganz Frankreich ein gallisches Dorf, das der Welt standhält, nur verfügt es, anders als das Dorf von Asterix, über keinen Zaubertrank. Zugleich sind die Franzosen laut Umfragen das pessimistischste Volk, was zu der merkwürdigen Situation führt, dass sie sich zwar sicher sind, der Himmel werde ihnen auf den Kopf fallen, aber nicht bereit sind, etwas dagegen zu unternehmen.
Stattdessen beharrt Frankreich in der Krise noch mehr als sonst darauf, Frankreich zu sein. 220 Jahre nachdem es seinen König geköpft hat, leistet sich das Land in der Person des Staatspräsidenten noch immer einen Monarchen. Wer kann da erwarten, dass es sich einfach so verändert? Die Franzosen glauben noch daran, dass die Welt sich der Vorstellung fügt, die man sich von ihr macht. Das hat etwas Sympathisches. Es ist der Versuch, die Ordnung aufrechtzuerhalten in einer Welt, in der Chaos herrscht.
Um eine Vorstellung vom Ausmaß der Selbstbezogenheit zu bekommen, muss man sich die Feierlichkeiten zum französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli, anschauen. Versammelt wird dafür der ganze Prunk von gestern. Raketen und Panzer ziehen in Paradeformation über die Prachtstraßen der Hauptstadt, die Republikanische Garde defiliert, roter Federbusch auf silberglänzendem Helm, hoch zu Pferde rund um den Arc de Triomphe, die Kadetten der Militärakademie Saint-Cyr marschieren mit gezückten Säbeln. In den stundenlangen Livesendungen im Fernsehen werden aktive Soldaten sowie ordenbehängte Veteranen aller Kriege interviewt, samt einem 90-Jährigen, der einst gegen Rommel kämpfte. Ein Fernsehreporter kommentiert die Parade live aus einem der "Rafale"-Jets, die Frankreich so gern in alle Welt verkaufen möchte. Eine eingebildete Weltmacht transformiert ihren Phantomschmerz in eine Demonstration der Stärke.
Bemerkenswert ist auch die Figur des Präsidenten selbst, der mit postmonarchistischem Pomp auftritt, unabhängig davon, wer das Amt gerade ausübt. Berliner Journalisten fühlten sich bei Hollandes Antrittsbesuch an den von Sarkozy erinnert. Ihnen fiel das leicht Gespreizte auf, das auch der Sozialist sich angeeignet hat, seit er Präsident ist - als verträte er kein 65-, sondern ein 265-Millionen-Volk. Aber das liegt nicht unbedingt an ihm, sondern eher an der Rolle, die er nun zu spielen hat.
Bei seinen Wahlkampfauftritten im ganzen Land konnte man in diesem Frühjahr oft den bemerkenswerten Satz hören: "Frankreich ist ein großes Land", wofür er stets enthusiastischen Applaus erhielt.
AUCH IN DEUTSCHLAND wird Frankreich regelmäßig, wenngleich spöttisch als "Grande Nation" bezeichnet. In Frankreich selbst brauchte niemand diese Größe eigens zu betonen. Dass Frankreich eine der bedeutendsten Nationen der Erde sei, verstand sich für die Franzosen lange Zeit von selbst. Hollandes Beteuerungen sind ein Zeichen dafür, dass es mit dieser Selbstverständlichkeit vorbei ist.
Wie gut er die Gemütslage der Franzosen kennt, zeigte, dass sein Wahlkampf häufig in der Vergangenheit spielte. Bei seinen Auftritten feierte er Ikonen der Geschichte, von der Französischen Revolution bis zu Mitterrand. Seine Vision von Frankreich erinnerte an eines dieser Hipstamatic-Fotos mit verklärenden Retro-Filtern, die mit dem iPhone möglich sind.
Wie wollen die Franzosen ein neues Bild von sich selbst entwerfen, wenn sie so sehr am alten hängen?
Rückblickend erscheint es wie ein unwirklicher Traum, dass es in Frankreich gegen Ende des vergangenen Jahres während einiger Wochen hieß, das Land müsse mehr wie Deutschland werden, "dem Sog des Südens" entkommen.
FÜR KURZE ZEIT war der Ausdruck "das deutsche Modell" zum Zauberwort geworden. Der Begriff stammte vom damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy, und man konnte in jenen Tagen im ganzen Land Taxifahrer, Kleinunternehmer, Intellektuelle treffen, die von sich aus zu schwärmen anfingen, wie viel besser die Deutschen alles machten. Deutschland war cool geworden.
Es waren nur einige wenige Wochen, während derer Frankreich sich vorstellte, wie es wäre, jemand anders zu sein, nur um festzustellen, dass es immer alles sein wollte, bloß nicht Deutschland. Die hysterische Begeisterung flaute schnell ab und verkehrte sich in Rivalität. Seit Hollande Präsident ist, geht es in den Zeitungen nur noch darum, ob er die Kanzlerin nun zum "Einknicken" bringt oder nicht (siehe Seite 49).
Deutschland bleibt der Fixpunkt, an dem Frankreich sich ohne Unterlass misst. Man könnte sagen, dass die Franzosen von Deutschland besessen sind. Es ist ihnen noch nie leichtgefallen, ihre Nachbarn auf der anderen Rheinseite zu verstehen, die auf sie so viel ernster, direkter, hölzerner wirken als sie selbst. Aber seit die beiden Länder in der Euro-Krise so eng aneinander- gekettet sind wie nie zuvor, beschäftigen sich die Franzosen ständig mit dem großen Nachbarn, und ständig müssen im Fernsehen deutsche Journalisten ihr Land erklären.
Es ist offensichtlich, dass Frankreich Deutschland gegenüber an einem Minderwertigkeitskomplex leidet.
Als Frankreich im Januar sein AAA-Rating bei Standard & Poor's verlor, schien aus französischer Sicht das Schlimmste daran zu sein, dass Deutschland das seine behielt. Als Moody's neulich das deutsche Rating unter Beobachtung stellte, machten die französischen 20-Uhr-Nachrichten frohlockend damit auf.
Vor einiger Zeit erschien eine Umfrage, die belegte, dass Deutsche einfach nicht genießen können, wenn sie nicht vorher dafür gearbeitet haben. Sogar beim Sex herrsche Leistungsdruck. Darüber berichteten fast alle großen französischen Medien. Vermutlich hatte die Vorstellung etwas Beruhigendes, dass die Deutschen, wenn ihre Wirtschaft schon besser läuft, wenigstens keinen Spaß haben am Leben.
In Deutschland sieht Frankreich das Gegenteil von sich selbst. Die Deutschen blicken in die Vergangenheit nur, um sich dessen zu vergewissern, wie sie nie wieder sein wollen. Deutschland klammert sich an die Gegenwart. Seine Kanzlerin regiert nicht in einem vergoldeten Palais, sondern in Sichtbeton. Von Paris aus erscheint es als ein übermodernes Land, in dem brutaler Wirtschaftsliberalismus herrscht.
Was wiederum ziemlich viel über Frankreich erzählt, dieses nostalgische, selbstverliebte und gerade deshalb liebenswerte Land, das gern Teil des Nordens wäre, mit dem Herzen aber in den Süden gehört.
Es will sich niemandem anpassen und erwartet den Tag, an dem Europa sich ihm anpasst. So, wie es immer war.
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