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Rezension

Eine Alltagsgeschichte bildgewaltig erzählt

Von Marvin Lauser

Dieser Film nimmt sich Zeit. Zwei Stunden und 15 Minuten insgesamt. Egal wie dramatisch die Situation, wie aufwühlend die Handlung gerade sein mag, Hektik entsteht im Schwarz-Weiß-Drama „Roma“ nie. Der vierfache Oscarpreisträger Alfonso Cuarón zeichnet verantwortlich für Regie, Drehbuch, Kamera und Produktion. Schon die Einstiegsszene, banaler könnte sie kaum sein, zieht der Mexikaner in die Länge und verleiht ihr mit einer tollen Nahaufnahme eines Flugzeugs, das sich in Seifenwasser spiegelt, einen besonderen Anstrich. Völlig entgegen heutiger Sehgewohnheiten kommt Cuaróns Kameraführung daher. Statt Jumpcuts und schneller Orts- und Szenenwechsel liefert „Roma“ den Zuschauern sanfte Übergänge, sehr lange Einstellungen und langsame Kameraschwenks. Die Rezipienten können sich außerdem über ein perfektes Zusammenspiel von Bild und Ton sowie toll arrangierte Umgebungen freuen.

Warum heißt der Film „Roma“? Cuarón, der den Film fast komplett aus seinen Kindheitserinnerungen komponiert hat, benannte sein Werk nach der Colonia Roma, einem Stadtteil von Mexiko-Stadt. Sogar die im Film gezeigte Hausnummer 21 in der Calle Tepeji gibt es wirklich. Der Film erzählt die sehr persönliche Geschichte der wohlhabenden Familie Antonio im Mexiko der 70er-Jahre. Cuarón legt dabei einen Fokus auf die indigene Haushälterin Cleo, von Yalitza Aparicio bei ihrem Leinwand-Debüt derart authentisch gespielt, dass sie direkt in der Kategorie „Beste Hauptdarstellerin“ für den Oscar nominiert wurde.

Cleo spricht im Film Mixtekisch und Spanisch. In der Originalfassung ist das sogenannte Codeswitching, der Wechsel zwischen den Sprachen, eindrucksvoll zu beobachten. Wenn die Bediensteten Cleo und Adela unter sich sind, Arbeiten erledigen oder Freizeitbeschäftigungen nachgehen (ein schickes Kino im Americana-Stil entpuppt sich als zentrale Anlaufstelle) fällt die indigene Sprache Mexikos besonders auf.

Unglaublich detailverliebt und angenehm beiläufig wird die Handlung in einen zeitlichen Kontext gefasst. Ein Plakat von der Fußballweltmeisterschaft, die 1970 in Mexiko stattgefunden hat und ein Sticker des WM-Maskottchens Juanito am Schrank des Kinderzimmers geben Hinweise auf die Zeit, in der das Geschehen spielt.

Cuaróns Drama wirkt sehr realistisch – die Charaktere sind nahbar und zugänglich, ihre Probleme wirken aus dem Leben gegriffen. So passt auch das etwas abrupte Ende gut zu diesem eindrucksvollen Film. In einer tollen Einstellung steigt Cleo an einem sonnigen Sommertag die Stufen zum Dach empor, ehe sie aus dem Blickfeld der Zuschauer gerät.