„Doch, jetzt sehe ich da was. Genau. Da hinten ein Seeadler“, sagt
Park Ranger Roland Weber. „Der Seeadler ist leicht zu erkennen an seinem
brettartigen Flug. Mit seiner Flügelspannweite von 2,40 Meter hebt er
sich doch recht deutlich beispielsweise vom Fischadler ab.“
Majestätisch sitzt der Seeadler auf der Spitze einer abgestorbenen
Kiefer inmitten der Moorlandschaft im Müritz-Nationalpark. Vom
Aussichtsturm aus beobachte ich den Vogel zusammen mit Park Ranger
Roland Weber. Durch das Fernglas versuchen wir bestimmte Merkmale am
Seeadler zu erkennen.
„Und wenn ich jetzt so durchs Fernglas
gucke, sehe ich genau, dass es ein Altvogel ist. Der Altvogel
unterscheidet sich von einem jüngeren Vogel, indem er einen ganz weißen
Stoß (Schwanz) hat und ziemlich hellen Kopf.“
Es sei schwer, durchs Fernglas einen Seeadler vom anderen zu unterscheiden, sagt Weber. „Es sei denn, er ist beringt.“
Vermessen und Beringen sind aufwendig
Wie alt der Seeadler ist oder wohin er in seiner Lebenszeit fliegt, wissen wir beide nicht. Nur über einen Ring und dessen einmalige Zahlenkombination lassen sich Vogel-Individuen eindeutig identifizieren. Der Metallring ist wie ein Ausweis – mit seiner Hilfe können etwa Alter und Zugverhalten der Tiere dokumentiert werden. Jedes Jahr fangen WissenschaftlerInnen und Ehrenamtliche Vögel ein, um sie zu vermessen und zu beringen.
Für Verhaltensbiologen wie André Ferreira ist das
ein aufwendiges Verfahren. Zumal weniger die Schwarmbewegungen von
Vögeln interessant seien, sondern die Aktivitäten einzelner Tiere
innerhalb großer Kolonien. Gemeinsam mit einer internationalen
Studiengruppe am „Center for Functional and Evolutionary Ecology“ in
Montpellier hat er deshalb eine Methode entwickelt, Individuen anhand
von Kamerabildern wiederzuerkennen. Der erste Schritt: eine gigantische
Datenbank mit Fotos von Zebrafinken, Kohlmeisen und Webervögeln füttern.
„Dazu habe ich eine Futterstation aus Kamerafallen und einer
Funkerkennung gebaut, die Fotos von den Vögeln, meist vom Rücken, also
dem Gefieder macht“, erklärt Ferreira.
„Gleichzeitig haben die Vögel, die wir untersucht haben, Mikrochips an ihren Beinen getragen, ein sogenannter RFID-Transponder. Dies ähnelt den Mikrochips, die in Haustierkatzen und -hunde implantiert werden. Dies ermöglichte es den Antennen am Futterhäuschen, die Kameras auszulösen – und ihre Identität zu lesen. Auf diese Weise bekommen wir Tausende von Bildern von Vögeln in kürzester Zeit, und die Identität der Bilder wird automatisch mit den Vögeln verknüpft.“
Individuelle
Merkmale wie feine Farbunterschiede im Gefieder oder komplexe
Federkonturen: Was selbst der scharfäugigste Biologe nicht mehr erkennen
und zuordnen kann, gelingt über maschinelles Sehen und „Deep
Learning“-Technik. Die Informationen zu Merkmalen und Individuen werden
wieder und wieder verknüpft und abgeglichen – das Programm „lernt“ so,
die aufgenommenen Tiere wiederzuerkennen. Mit ziemlichem Erfolg:
Immerhin zeigt es laut der Studie eine Trefferquote von über 90 Prozent
bei wilden Kohlmeisen und 87 Prozent für in Gefangenschaft gehaltene
Zebrafinken. Später soll der Computer die jeweiligen Vögel auch in
freier Wildbahn wiedererkennen können.
„Bisher ist der Computer
in der Lage, 30 Vogel-Individuen zu identifizieren. Und jetzt wollen
wir dazu übergehen, was bereits bei der Gesichtserkennung bei Menschen
auf unserem Smartphone und auf Facebook funktioniert: Individuen
erkennen, die der Computer noch nie zuvor gesehen hat“, so Ferreira.
„Damit
wären auch die Mikrochips an den Beinen der Vögel überflüssig. Was wir
dafür brauchen: einen noch größeren Foto-Datensatz. Mit Hilfe von
verschiedenen Forschungsstationen werde ich in ganz Europa Bilder von
5000 Kohlmeisen-Individuen sammeln. Damit hoffe ich, diese neue und
fortgeschrittene Methode des Deep Learning weiterzuentwickeln.“
Eine Technologie, mit der wir heutzutage
einchecken, bezahlen, uns vernetzen, aber auch uns überwachen lassen
können, kann für die Verhaltensbiologie eine große Erleichterung sein.
Die Hoffnung: Mit ihr ließen sich mehr Daten in kürzerer Zeit sammeln –
und bestehende Verfahren und Forschungsfragen überprüfen.
„Eine
Möglichkeit dieser Methode wäre zum Beispiel auch: wenn wir uns
interessieren, wie Tiere mit unterschiedlichen klimatischen Bedingungen
zurechtkommen“, sagt die Verhaltensbiologin Hanja Brandl. „Dann kann ich
mir anschauen, welches Verhalten nötig ist, damit ein Tier in einem
bestimmten Gebiet überleben kann und unter welchen Bedingungen es viele
Nachkommen zeugen kann. Das alles sind dann Anpassungen, die von
evolutionärer Bedeutung sind. Das sind nicht unbedingt ganze neue
Fragen, die wir damit angehen wollen, sondern einfach eine viel bessere
Bearbeitung bestehender Fragen.“
Am Max-Planck-Institut in
Radolfzell untersucht Hanja Brandl das Sozialverhalten von Zebrafinken:
Wer ist wer, wer frisst gerne mit jemanden zusammen und wie sind die
sozialen Dynamiken in einer Gruppe? Für sie ist der Blick der KI auf die
Tiere auch ein fürsorglicher Blick.
„Vor allem, was ganz
wichtig ist, dass wir das Tier nicht beeinflussen. Wenn ich ein Tier
einfange, ist das natürlich ein sehr großer Stressfaktor. Ich muss eine
Art Markierung anbringen, zum Beispiel Farbringe an den Beinen,
eventuell ein Sender. Teilweise kann es auch passieren, dass man das
Tier auffälliger macht für Fressfeinde. Oder ich bringe einen Sender an,
dann muss das Tier ein zusätzliches Gewicht tragen. Und wenn uns jetzt
die Kamera und der Computer sagt, das war Tier A und das war Tier B,
dann fällt das alles weg und eröffnet viel mehr Möglichkeiten.“
So wird der Vogel zum „Nachbarn“
Auch bei Zebrafischlarven und Schweinen nutzen Verhaltensforscher bereits Technologien zur Bilderkennung und Identifizierung. Bei Vögeln ist die Technik bisher noch auf bestimmte Orte beschränkt. Aber die Vision der WissenschaftlerInnen ist größer – sie geht unter anderem in Richtung „Citizen Science“: Warum nicht Anwendungen für das Smartphone entwickeln, die großflächig genutzt werden können, vielleicht auch von interessierten Laien?
Dann ist der Spatz auf dem Balkon oder der Seeadler im Nationalpark nicht mehr nur einer von vielen. Sondern wird viel mehr ein „Nachbar“. Der uns hilft, neu über unser Verständnis zur Natur nachzudenken.
Von Martina Weber
Zum Original