Es ist schwer, sich als Leopard auszugeben. Die Forscherin Claudia Stephan schleicht auf leisen Sohlen mit Aufnahmegerät und Abspielgerät durch den größten intakten Urwald in Westafrika. Acht bis zehn Stunden täglich sucht sie im Taï-Nationalpark an der Elfenbeinküste Gruppen von vier verschiedenen Meerkatzenarten, um ihnen eine Antwort auf fingierte Leopardenrufe zu entlocken. Dabei müssen sie und ihr Equipment unentdeckt bleiben.
Menschen sind im Lebensraum der Primaten ungewohnte Eindringlinge. Der Leopard hingegen spielt etwa für Campbell-Meerkatzen eine so große Rolle, dass er es zu einem eigenen Wort in ihren Warnrufen gebracht hat: "Krok".
Inmitten des westafrikanischen Regenwalds liegt ein Nebenschauplatz einer Debatte, die in der Evolutionsbiologie mit Charles Darwin begann und bis heute andauert: die Frage nach der Einzigartigkeit der menschlichen Sprache.
Dass gerade die Campbell-Meerkatzen in dieser Diskussion vorkommen, haben sie nicht zuletzt ihrer Stimmkraft zu verdanken. Die Alarmrufe der männlichen Tiere tragen weit und stechen im Lautgewirr des Urwalds hervor. Primatenforscher wie der Schweizer Klaus Zuberbühler erkannten ein Muster in den Warnlauten der Meerkatzenart.
Je länger die Wissenschafter vom Tai Monkey Project der Université de Neuchâtel und der Ohio State University den Affen an der Elfenbeinküste auf den Fersen waren, umso tiefer tauchten sie in das komplexe Verständigungssystem ein. Campbell-Meerkatzen haben nicht nur gewisse Alarmlaute für bestimmte Gefahren - sie kombinieren sie auch und verleihen dem Warnruf damit eine völlig neue Bedeutung.
Ihre Feinde nehmen im Vokabular der Affenart eine zentrale Rolle ein. "Hok" rufen Campbell-Meerkatzen, wenn sie einen Adler sichten. "Krak" bezeichnet den Hauptfeind auf dem Boden, den Leoparden. Blasen die Männchen ihre Backen auf und lassen ein "Boom Boom" vor dem Alarmruf vernehmen, reagiert die Gruppe plötzlich gelassen. Der Laut scheint den Tieren Entwarnung zu geben.
Auch die Silbe "Oo" hinter den Rufen verändert ihre Bedeutung. Mit "Hok-oo", dem erweiterten Adleralarmruf, warnen die Tiere einander vor Gefahren, die von oben kommen - zum Beispiel vor einem umfallenden Baum.
"Meerkatzen sind die einzige Tierart, die wir bis jetzt kennen, die einzelne Rufe kombinieren kann, um neue Bedeutung zu generieren", sagt Stephan. In zahlreichen kontrollierten Experimenten fanden die Forscher eine Vorstufe von einem Element der Sprache, das lange Zeit als menschliches Alleinstellungsmerkmal galt: die Syntax.
Trotzdem sollte man sich hüten, der Affenart Sprache anzudichten. "Eine Campbell-Meerkatze wird nicht auf einmal anfangen, sich Rufe auszudenken und mit einem komplett neuen Repertoire auftauchen", sagt Stephan. Die Kreativität menschlicher Sprache, die Möglichkeit, damit durch Zeit und Raum zu reisen und verschiedenste Gedanken auszudrücken, bleiben den Affen verwehrt.
Dafür entpuppen sich die Meerkatzenarten auch speziesübergreifend als sensible Zuhörer. Die Diana-Meerkatzen etwa reagieren auf die Alarmrufe der benachbarten Spezies der Campbell-Meerkatzen und verkünden ihrerseits mit Lauten die nahe Gefahr. Gut zuhören zahlt sich im Urwald noch mehr aus, als selbst zu rufen, denn ein richtig verstandener Alarmruf kann das Überleben sichern.
Seit mehr als zwanzig Jahren erforschen Evolutionsbiologen systematisch die Tierkommunikation. Sie führen damit Darwins Debatte über die Evolution menschlicher Sprache fort.
Der frühe Evolutionswissenschafter argumentierte, dass sich das Sprechen aus den Kommunikationssystemen der Tiere entwickelt habe. Sein Zeitgenosse, der Linguist und Orientalist Friedrich Max Müller hielt vehement dagegen: Gerade die einzigartige menschliche Sprache schließe eine Verwandtschaft von Menschen und Tieren aus.
Inzwischen löste sich dieser Widerspruch auf: "Sprache folgt nicht dem Prinzip alles oder nichts", sagt Tecumseh Fitch vom Department für Kognitionsbiologie an der Universität Wien. Die komplexe Fertigkeit, unsere Gedanken in Lautketten zu fassen, sie zu ordnen und dann mit anderen zu teilen, baut auf einer Fülle an kognitiven Fähigkeiten auf.
Alle diese Bausteine bei einer anderen Spezies zu finden wäre höchst unwahrscheinlich. Genauso unwahrscheinlich wie die Annahme, dass der Mensch jede einzelne dieser kognitiven Leistungen für sich allein verbucht.
"Es gibt nur wenige Komponenten der Sprache, die nicht auch im Tierreich nachgewiesen wurden", sagt Fitch. Vögel, Robben und Elefanten sind begabte Imitatoren verschiedenster Laute, so wie Menschen. Bestimmte Singvögel und Buckelwale erfinden neue Lieder, indem sie Sequenzen nach Regeln kombinieren. Analog dazu können Menschen grammatisch korrekte Sätze bilden, die sie noch nie zuvor gehört haben.
Primatenarten besitzen dafür die Fähigkeit, Stimmen wiederzuerkennen und sie ihren Artgenossen zuzuordnen. Viele soziale Eigenschaften, die für Sprache wichtig sind, teilen Menschen mit ihren nächsten Verwandten.
Verwandtschaft ist aber nicht entscheidend: Honigbienen können mit ihrer Tanzkommunikation als einzige Spezies neben dem Menschen auf Orte referieren. In gewisser Hinsicht ähneln Menschen in ihren sprachlichen Fähigkeiten Vögeln und Bienen stärker als etwa Schimpansen.
Das Stichwort heißt Analogie: Weil soziale Spezies ähnliche Fragen des Zusammenlebens zu lösen haben, entwickeln sie auch ähnliche Antworten. Daneben könnte es einen tieferen, wenig erforschten Grund geben: Genom und Gehirn können sich nur in gewisse Richtungen entwickeln. Dadurch ergeben sich die evolutionären Leitplanken der Sprache. Diese Strukturen bleiben bis heute aber wenig verstanden.
Die Komponenten der menschlichen Sprache tauchen überall im Tierreich auf, auch dort, wo man sie nicht erwartet. Viele soziale Spezies scheinen im Laufe der Evolution einen großen Vorteil aus ihren komplexen Kommunikationssystems gezogen haben. Und im Fall der Meerkatzen kann Grammatik sogar Leben retten. (Marlis Stubenvoll, DER STANDARD, 29.4.2015)