Es ist der 23. September 2021, 06.45 Uhr am Morgen: Stefan Unterstraßer ist auf dem Weg zur Arbeit. Wie üblich nimmt er die Münchner U-Bahn. Er geht die Treppe einer Station im Westen der Stadt hinunter, nichtsahnend. Dann passiert es: Unterstraßer stolpert über einen Elektroroller. Er stürzt die Treppe hinab, fällt auf die Knie - verletzt sich. Wegen eines E-Scooters, der dort stand, wo er nicht hätte stehen sollen, wird Stefan Unterstraßer krankgeschrieben. Mehr als zwei Monate lang.
Der Münchner hatte keine Chance, dem Roller auszuweichen. Er sah ihn nicht. Denn Stefan Unterstraßer ist blind.
Laut Michael Richter passieren derartige Unfälle inzwischen häufig: Für Blinde oder Sehbehinderte sind die E-Scooter in deutschen Großstädten zur Gefahr geworden. Michael Richter arbeitet als Rechtsanwalt für den Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband. In seinen Augen zahlen Blinde und Sehbehinderte einen hohen Preis für diese neue Form der Mobilität.
Hohe Dunkelziffer bei Unfällen mit E-Scootern vermutetDer Anwalt vertritt derzeit acht blinde Mandanten. Er geht aber von einer hohen Dunkelziffer aus, wenn er über Stolperunfälle mit E-Scootern spricht. Viele Betroffene würden sich gar nicht bei den Verleihfirmen der Roller melden, sagt Richter. Etwa, weil sie keine Angaben zum Unfallort oder zum Gerät machen können oder wenig Hoffnung auf Schadensersatz haben - denn die Haftung bei einem solchen Unfall ist unklar.
Die Verleih-Roller haben zwar ein Kennzeichnen und sind haftpflichtversichert, dafür müssen sie aber auch bewegt werden. Eine Halterhaftung gibt es nicht - anders als bei Autos: Hier ist im Zweifelsfall der Halter verantwortlich für das, was mit dem Fahrzeug passiert.
Unbekannte Vandalen verantwortlichAuch im Falle von Stefan Unterstraßers Unfall ließ sich kein Schuldiger ermitteln. In seinem Fall stammte der Roller aus dem Fuhrpark des Verleihers "VOI". VOI ist einer der sechs großen E-Scooter-Verleiher, die derzeit in Deutschland tätig sind. Sie betreiben zusammen rund 230.000 Fahrzeuge in über einhundert Städten.
Auf BR-Anfrage erläutert eine Sprecherin von VOI, man habe längst Maßnahmen getroffen, damit die Geräte ordnungsgemäß geparkt werden. Beim Abstellen müsse der Roller fotografiert werden. Das Foto müsse dann über eine App hochgeladen werden. Es werde durch ein Programm überprüft. Bei Parkverstößen droht eine Verwarnung oder eine Geldstrafe. Der Sprecherin zufolge ist deshalb davon auszugehen, dass ein Dritter den Roller auf die Treppe der U-Bahnstation gestellt hat, wo Stefan Unterstraßer über ihn gestolpert ist.
E-Roller kaum mit Blindenstock zu ortenDoch selbst wenn E-Scooter auf dem Gehweg stehen, können sie für Blinde zu einer gefährlichen Stolperfalle werden. Die Roller sind mit dem Blindenstock teils nur schwer zu ertasten. Aus Sicht von Rechtsanwalt Michael Richter wären deshalb feste Abstellstationen oder abgetrennte Parkflächen die beste Lösung.
Dafür zuständig sind derzeit die Kommunen. Denn grundsätzlich ist das Parken der Roller auf dem Gehweg erlaubt. Ein Vorreiter für klare Lösungen ist Leipzig. Dort dürfen die E-Scooter nur auf festgelegten Parkplätzen abgestellt werden. Gleiches gilt bald in Düsseldorfs Innenstadt.
In München läuft dazu seit Ende 2020 ein Modellversuch. Gerade werden Ergebnisse ausgewertet. Noch im März sollen weitere Gespräche zwischen den Roller-Verleihern und der Stadt stattfinden.
Wohl eher kein Beitrag zur VerkehrswendeUnabhängig von den viel diskutierten Fragen rund um Abstell-Gewohnheiten ist bis heute umstritten, ob die Roller leisten können, was sie leisten sollen:
Als die Elektroroller 2019 auf Drängen des damals CSU-geführten Bundesverkehrsministeriums zugelassen wurden, sollten sie vor allem die "letzte Meile" überbrücken - etwa den Weg von der U-Bahn-Station zur Arbeit - um so den öffentlichen Nahverkehr attraktiver zu machen und Anreize zu liefern, auf das Auto zu verzichten. Ob das auch funktioniert, ist aus Sicht des Umweltbundesamtes noch offen. Es sei zu früh, um die Umweltfreundlichkeit der E-Roller abschließend zu beurteilen, sagt Miriam Dross im BR-Interview. Dross ist zuständig für derartige Fragen. Nach einer ersten Einschätzung stellten sie aber "keinen wirklichen Beitrag zur Verkehrswende dar".
Die wenigen Studien zu diesem Thema kommen zu dem Schluss, dass E-Scooter momentan hauptsächlich den öffentlichen Nahverkehr, das Fahrrad und das Zu-Fuß-Gehen ersetzen - also jeweils umweltfreundlichere Fortbewegungsarten.