Marlene Halser

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Artikel

Älter als meine große Schwester | DUMMY 51 Geschwister

Über ein Mädchen, das mit 16 starb und irgendwie immer noch da ist

Von Marlene Halser

„Ich war damals sechs Jahre alt." Diesen Satz habe ich schon sehr oft gesagt. Er kommt automatisch. Immer wenn es um meine Schwester geht. Denn sie ist tot. Und ich bin noch hier. Also bin ich es, die von ihr erzählen kann. Nicht umgekehrt. Wer weiß, ob das immer allen so recht gewesen ist. „Sie war sechzehn, und ich war sechs." Noch so ein Satz, der für mich zum Automatismus geworden ist, zu einem kleinen Gedicht, das sich nicht reimt. Oder zu einem Satz, der aus einem Schlager stammt, weil so viel Pathos in ihm liegt. Die Zahlenmagie, die in diesem Satz steckt, hat mich immer fasziniert. Sechs. Sechzehn. Genau zehn Jahre Altersunterschied. Als hätte sich irgendjemand etwas dabei gedacht. Als wäre es Absicht gewesen, dass es genau dann passiert. Auszurechnen, wie alt meine Schwester wäre, wäre sie nicht gestorben, fiel mir deshalb immer leicht. Und als ich selbst sechzehn wurde, und dann siebzehn, und dann achtzehn und so fort, fühlte sich das seltsam an, weil ich wusste: Ich bin jetzt älter, als sie jemals geworden ist. Meine große Schwester. Man kann doch nicht älter als die große Schwester sein.

Das erste Bild, das in diese Geschichte gehört, ist braun und gelb. In den 70er-Jahren gestaltete man seine Wohnung so. Schokoladenbrauner Teppichboden. Vorhänge in sattem Orange mit großen weißen Ornamenten darauf. Auch die Bettwäsche war gelb und braun. Warum ich auf der Ausziehcouch im Wohnzimmer übernachtet hatte und nicht in meinem Zimmer, weiß ich nicht. Hatten wir alle zusammen geschlafen? Hatten meine Eltern mich zu sich geholt, um das letzte verbliebene Kind zu schützen? Mein Vater war morgens nicht mehr da. Vielleicht war er schon zur Arbeit gegangen? An diesem Morgen gab es nur meine Mutter in ihrem weichen weißen Baumwollnachthemd. Und mich. Die Sonne schien hell hinter den Vorhängen und tauchte die Wohnzimmerwelt drinnen in ein warmes goldenes Licht. „Marlene, die Margot ist tot", sagte meine Mutter in die Idylle hinein, als ich die Augen geöffnet hatte, und ich weinte bitterlich, ohne zu begreifen, was eigentlich geschehen war. Vielleicht spürte ich die Trauer meiner Mutter. Zwei Polizisten hatten spätnachts an unserer Wohnungstür geklingelt, erzählte sie mir. Ich war schon im Bett. Man müsse leider mitteilen, dass es einen Unfall gegeben habe, sagten die beiden Männer in Uniform. Drei junge Leute seien mit hoher Geschwindigkeit von der Straße abgekommen und mit dem Wagen gegen einen Baum gekracht. Zwei Männer und eine Frau. Der Beifahrer und das Mädchen auf der Rückbank waren sofort tot. Den Fahrer habe die Wucht des Aufpralls durch die Windschutzscheibe geschleudert. Auch er verstarb noch am Unfallort. Das Mädchen war meine Schwester Margot. Sechzehn Jahre alt. Mittelstufe Gymnasium. Eine schöne junge Frau. Offenes Lachen, braune Augen hinter großen Brillengläsern, das dunkelblonde Haar gewellt, wie man das damals trug.

Wenn ich heute Bilder von ihr raussuche, sieht sie darauf nicht wie ein unbeholfener Teenager aus. In ihrem Blick liegt etwas Furchtloses, fast Kämpferisches, ein Ausdruck voller Klarheit und Selbstbewusstsein. Auf jedem Foto ist sie modisch gekleidet. Auf einem Bild trägt sie weiße Socken zu roten Pumps. Später behauptete meine Mutter, Margot habe ihren Tod vorhergesehen. Alle Zeichen deuteten angeblich darauf hin: die Wahrsagerin, die sich weigerte, meiner Schwester aus der Hand zu lesen. Meine Schwester, die ihren Wellensittich von einem Tag auf den anderen verschenkte und die im Jahr ihres Todes partout keine neue Kleidung im Katalog bestellen wollte. Margot, die Weise. Selbst ihren Tod hatte dieses Mädchen vorausgeplant. Der Beifahrer, der mit meiner Schwester starb, war ihr Freund Bernhard. Ein verwegen dreinblickender, hübscher junger Mann mit geföhntem Lockenkopf. Der Fahrer des Wagens war Thomas, Bernhards bester Freund. Ihm gehörte auch der weiße Porsche, mit dem das Trio an einem sonnigen Nachmittag im Hochsommer in einen Vorort fuhr, um dort Eis zu essen. Angeblich, so erzählte es meine Mutter, war auch Thomas, der Fahrer, in meine Schwester verliebt. Margot habe das gewisse Etwas gehabt. Reif sei sie gewesen und erwachsen. Und dass meine Mutter und sie einander im Denken immer sehr ähnlich gewesen seien. So etwas habe ich über mich nie gehört.

Ich habe den weißen Porsche gesehen, als er auf dem Schrottplatz stand. Das ist das zweite Bild, das sich eingebrannt hat. Meine Mutter hatte mich mitgenommen, um sich das Wrack anzusehen. Warum, weiß ich nicht. Wahrscheinlich wollte sie nicht allein gehen. Da standen wir also, die Sonne schien, und vor uns war etwas, das mal ein ziemlich teures Auto gewesen war und das nun aussah, als wäre es unter zu großer Hitze zu einem Knäuel verschmolzen. Rund statt eckig. Wie es einmal ausgesehen hatte, war nicht mehr so recht auszumachen. Denn das, was da vor uns stand, war einfach kein Auto mehr. Auf einem Metallteil steckte noch ein Stöckelschuh. Er hatte meiner Schwester gehört. Einen zweiten Schuh gab es nicht. Mit diesem Porsche waren die drei viel zu schnell gefahren. 180 Stundenkilometer auf einer Straße, auf der nur 60 erlaubt waren. So war es in einem kurzen Artikel in der Illustrierten „Quick" zu lesen, die ein ganzseitiges Foto von dem Unfall abgedruckt hatte. Überschrift: „Die jungen Raser". Ein Journalist, der noch vor dem Notarztwagen am Unfallort gewesen war, hatte es gemacht. Man sieht darauf das weiße Auto, die Tür weit aufgerissen. Im Wrack liegt meine Schwester. Sie sieht ein bisschen so aus, als ob sie schlafen würde, auch wenn sie leicht verdreht ist. Man sieht die Blutflecken auf ihrem weißen T-Shirt und auf ihrem Arm. „Ich habe früher als Polizeireporter viele Unfälle gesehen - aber so einen grausigen noch nie", wird der Journalist in dem Artikel zitiert. „Der Porsche war bei der Kollision total zerfetzt worden, die Fahrertür aus den Angeln gerissen und nach hinten aufgegangen. Im Wagen hing völlig zerquetscht ein blondes Mädchen." Als ich den Reporter Jahre später anrief, weil sein Name unter dem Artikel stand und ich seine Telefonnummer auf seiner Website fand, wusste er auf Anhieb, von welchem Unfall ich sprach. Es war ihm unangenehm. Dennoch nahm er sich Zeit. Wenn ich den Artikel heute lese, wird mir schlecht, und ich bekomme Kopfschmerzen - obwohl 33 Jahre vergangen sind. Meine Schwester, sie wäre heute 49 Jahre alt. Im nächsten Jahr würden wir ihren 50. Geburtstag feiern.

Unzählige Male habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn sie noch bei mir wäre. Meine weise, kluge, schöne, furchtlose Schwester. Das Mädchen, das nackt in seinem Zimmer lag und Pink-Floyd-Platten hörte. Würden wir uns gut verstehen? Wären wir Freundinnen geworden? Hätten wir zusammengehalten? Uns immer alles erzählt?

Hätte ich durch sie eine Familie gehabt? Nicht so wie jetzt: einen Vater und eine Mutter, die keine Familie mehr sind, weil jeder schon seit langem für sich allein kämpft.

Hätte ich einen Schwager gehabt? Neffen und Nichten? Hätte meine Schwester geschafft, was keinem von uns Hinterbliebenen gelingt: dauerhaft zu zweit zu sein?

Hätte sie mich beschützt? Mich ermutigt, meinen Weg zu gehen, als das sonst niemand tat? Hätte ich zu ihr gehen und mir Rat und Unterstützung suchen können? Hätte sie mich verstanden? Wäre ich mit ihr eine andere geworden als die, die ich heute ohne sie bin? Als ich mit Ende zwanzig meiner Therapeutin erzählte, dass sich mein Bewusstsein im Traum immer wieder von meinem Körper löst und ich in der Luft schwebend meine eigene Leiche anschaue, die von einer Straßenbahn in mehrere Teile geschnitten in einer blutigen Pfütze auf dem Pflaster liegt, sagte sie, das könne ein Zeichen eines Traumas sein.

Offenbar gab es in der Geschichte auch ein Bild, das mir fehlte. Es ist das Bild meiner toten Schwester im Sarg. Das hatte sich meine Mutter allein angesehen. Vielleicht, weil man keine Kinder mitnehmen durfte. „Ich wollte sie noch einmal sehen", hatte meine Mutter damals gesagt. Und alle hatten zugestimmt. Mittlerweile weiß ich, warum: Es hilft, sich von einem toten Menschen zu verabschieden, wenn man ihn noch einmal sieht. Der Tod wird real. Und man kann weitergehen. Für mich ist der Tod meiner Schwester lange virtuell geblieben. Eingefroren. Entrückt. Eine Abfolge schrecklicher Bilder. Ohne Ende. Ein Phantom, von dem mir Nachbarn und Lehrer erzählten, ohne zu wissen, dass sie meine Schwester war. „Von dem Mädchen, das mal hier im Haus gewohnt hatte" oder „Von dem Mädchen, das mal hier an der Schule war ..." Ein Phantom, das immer wieder auftauchte, wenn mich jemand fragte, ob ich Geschwister habe. Was antworten? Sehr oft habe ich „Nein" gesagt. Und nur zu sehr wenigen Menschen „Ja".

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