Gerade ist er vorbeigerauscht und hat mir eine Staubwolke ins Gesicht gepustet. Doch dann kommt der Moment, den sich jeder Tramper herbeisehnt. Der Lastwagen wird langsamer, die Rücklichter blinken einladend auf. Der Rückwärtsgang ist eingelegt.
Jetzt heißt es, den Rucksack schultern und auf die Kabinentür zusprinten. Bevor ich überhaupt einen Fahrer sichten kann, hat sie sich schon geöffnet. "Hos Geldiniz!" - willkommen - ruft ein mittelalter Mann mit Schnurrbart. Er trägt ein Polohemd und hat eine verspiegelte Sonnenbrille auf der Nase. Schnell hole ich meine zerknitterte Straßenkarte aus der Hosentasche und zeige mit dem Finger, wohin ich fahren möchte. Der Fahrer lächelt zustimmend. Die Richtung stimmt.
Mit beiden Händen am Haltegriff ziehe ich mein vereintes Körper- und Gepäckgewicht auf den Beifahrersitz hoch. Den Rucksack schmeiße ich nach hinten auf das Trucker-Bett. Es geht los.
Was für eine Hochstimmung - der erste Lift nach nicht einmal zehn Minuten Wartezeit einige Kilometer südlich von Izmir. Am Anfang einer Tramp-Tour beflügelt das die Reisemoral. Per Anhalter will ich in den drei Wochen von der Ägäis nach Anatolien reisen, einmal quer durch die Türkei.
An Autobahnen in der Türkei sind Tramper nicht selten
Beim ersten Mal Trampen war die Überwindung noch groß. Ich stand auf einer südfranzösischen Landstraße und fühlte mich im Strom der Wohnwagenfahrer wie der letzte Abenteurer unter der Sonne. Es hatte etwas Verlockendes, der selbstbestimmte Roadtrip, das Nicht-wissen-wann-man-ankommt.
In Zeiten von Fernbussen und Fahrplan-Apps kennen viele diese Ungewissheit beim Reisen gar nicht mehr. Das hochgehaltene Schild auf deutschen Autobahntankstellen ist seltener geworden, genau wie es immer weniger mitnahmewillige Fahrer gibt.
Nicht so in der Türkei. Hier sind Anhalter auf Landstraßen kein sonderbarer Anblick. Je weiter man nach Osten kommt, desto häufiger kann man Tramper erblicken. Der ausgestreckte Daumen gehört vor allem dort ins Straßenbild, wo öffentliche Verkehrsmittel rar gesät sind.
Mein neuer Fahrer heißt Osman. Leider reichen meine Türkischkenntnisse nicht über eine Vorstellung hinaus. Mit Wortfetzen und Zeichensprache kommt trotzdem eine Art Gespräch zustande. Osman greift sich meinen Ringfinger. Ich schüttele den Kopf und erzähle, dass ich nicht verheiratet bin und dazu auch noch Einzelkind. Wichtige Details in einem Land, wo Familie wichtiger ist als alles andere.
"Und du?", signalisiere ich und erfahre, dass Osman eine Frau und zwei Kinder hat. Auch der Lastwagen meldet sich zu Wort. Er ächzt und knarzt bei jeder Steigung. Die Sonnenblenden sind von glitzernden Plüschüberziehern bedeckt. Von der Klappe des Handschuhfachs baumelt eine türkische Flagge.
Am Mittelmeer entlang zu den Stränden der Westküste
Auf der Scheibe vor mir haftet ein Aufkleber, auf dem ein Paar blauer Augen abgebildet ist. Sie sind geradewegs auf den Beifahrersitz gerichtet, als gehörten sie dem Lastwagen, der jeden Fremden argwöhnisch beobachtet. Nach einem Volksglauben sollen solche Augenabbildungen den bösen Blick abwenden - oft hängen auch sogenannte Nazar-Amulette aus blauem Glas an Innenrückspiegeln.
Unsere Fahrt wird von arabesken Tönen aus dem Autoradio untermalt. Die Tachonadel scheint eingeschlafen zu sein. Kurz vor der 60-km/h-Marke will sie sich nicht mehr bewegen. Wer schnell vorankommen will, kann ja in den Bus steigen, sage ich mir. Außerdem ist das Tempo genau richtig, um in der vorbeiziehenden Landschaft auch Einzelheiten zu erkennen.
Hinter manchen Kurven weicht das Grau der Fahrbahn plötzlich dem Blau der Ägäis. Wie eine schöne Versuchung liegt es in der Mittagshitze und glitzert. Mein Etappenziel, die Bilderbuchstrände der türkischen Westküste, sind zwar noch weit. Aber es riecht schon ein bisschen nach Urlaub. Osman öffnet mit der rechten Hand die Klappe des kleinen Kühlfachs und reicht mir eine Dose Limonade.
Zur Mittagszeit halten wir am Straßenrand. Hier haben bereits einige Lastwagen geparkt. Auf den roten Plastikstühlen vor den Imbissbuden sitzen junge bis alte und dünn- bis dickbäuchige Herren. Mit Zigaretten und Gebetskettchen in der Hand trinken sie Schwarztee aus Tulpengläsern, um nicht einzudösen. "Cay" ist in der Türkei Aufputschmittel und soziales Bindemittel zugleich.
Gözleme von zwei Großmütterchen und Kekse zum Abschied
Osman bestellt zwei Portionen Gözleme. Die mit Schafskäse, Spinat und frischen Kräutern gefüllten Fladenbrote werden hinter uns von zwei Großmütterchen ausgerollt, belegt und auf einer gewölbten Heizplatte gebacken.
Widerstand zwecklos. Hier bin ich Osmans Gast, nicht nur ein Tramper. Wie gerne würde ich mehr über meinen Gastgeber erfahren. Doch unsere Sprachbarriere lässt mich in Unwissen, wohin Osman fährt und was er da eigentlich im Lkw hinter uns herzieht. Ein Stunde schweigsamer Langsamkeit später hält Osman an. Er hat seine Ausfahrt erreicht. Ich hingegen muss weiter geradeaus und ernte dafür einen entschuldigenden Blick.
Als mir Osman eine Packung Kekse als Proviant hinhält, sagt meine Intuition: Nein, das willst du nicht auch noch annehmen. Doch sie liegt schon in meinen Händen. Osman winkt noch mal beim Wegfahren. Die nächsten hundert Meter wandere ich beschwingt auf dem Standstreifen entlang, dem nächsten Lift entgegen.
Mit ein bisschen Anhalterglück bin ich in zwei Stunden am Strand.