Mitten in der Wüste, im Grenzgebiet zwischen Algerien, Mauretanien, Marokko und der Westsahara, warten seit über dreissig Jahren etwa 200 000 Flüchtlinge. Sie sind von der Welt fast vergessen. Sie flohen aus der Westsahara, als sich Spanien 1975 als Kolonialmacht zurückzog und der grösste Teil des Gebietes von Marokko eingenommen wurde. Die meisten dachten wohl, sie würden bald in ihre Heimat zurückkehren. Schliesslich hatte auch der Internationale Gerichtshof das Selbstbestimmungsrecht der Sahraoui anerkannt. Aber es kam anders. Die Sahraoui bekamen lediglich einen schmalen Streifen Land im Osten zuerkannt. Das weitaus grössere Gebiet entlang der Küste behielt Marokko und schützte es mit einem 2000 Kilometer langen, verminten Sandwall. Die Flüchtlinge konnten nicht zurück. Schon 1991 sah ein Uno-Friedensplan die Durchführung eines Referendums vor, bei dem die Sahraouis über ihre Autonomie abstimmen sollten. Bis heute wurde diese Abstimmung von Marokko hintertrieben.
Gebildet, aber arbeitslosSo harren die Gestrandeten in den riesigen Lagern bei der algerischen Stadt Tindouf aus. Inzwischen wächst die dritte Generation heran, die nichts als die Camps inmitten des Sands kennt. Auch die Westsahara-Exilregierung ist dort untergebracht. Ohne Hilfe der internationalen Organisationen gäbe es kein Überleben. "Die Lastwagen kommen voll und gehen leer", sagt der 26-jährige Mohamed Sulaiman aus dem Lager Smara. Er ist es leid, wie ein Kind an der Nabelschnur von externer Versorgung abhängig zu sein, ohne selbst etwas bieten zu können. Die nächsten algerischen Städte, Béchar oder Béni Abbes, sind fast tausend Kilometer entfernt. Man fühlt sich verloren wie auf einer einsamen Insel im unendlichen Meer.
Mohameds Eltern waren Nomaden und Hirten. Sie flohen als junge Erwachsene vor dem Krieg und kamen mit ihren Eltern nach Smara. Mohameds Grossmutter war Dichterin. Sie konnte nicht schreiben. Sie legte sich ihre Gedichte, gehalten in einer streng gegliederten, traditionellen Form, im Kopf zurecht und rezitierte sie auswendig bei Familienfesten und öffentlichen Anlässen. Erst im hohen Alter, als sie ihr Gedächtnis zunehmend im Stich liess, diktierte sie Mohamed gelegentlich einen Einfall, um ihn nicht zu vergessen. Mohamed, der hofft, bald in London weiterstudieren zu können, mit seiner Mutter im Zelt.(Marcus Reichmann)
Seine Familie hatte Glück, sie wurde während der Kriegswirren nicht auseinandergerissen. Andere verloren sich im Chaos der Flucht aus den Augen, die Mauer wurde buchstäblich quer durch manche Familien gezogen. Viele Brüder und Schwestern, Eltern und Kinder sahen sich nie mehr.
Seit einiger Zeit existiert ein Programm für Besuche zwischen den Lagern und dem besetzten Gebiet. Verwandte können sich jeweils für sechs Tage treffen. Ein Cousin von Mohamed bekam so endlich seinen Vater zu sehen. Er war dazumal in den siebziger Jahren zwei Jahre alt gewesen, als er von ihm getrennt wurde. Seither bekam er nur einmal ein Bild von ihm zugeschickt. Ein Leben lang hatte der Sohn von diesem Moment geträumt. "Aber nun", sagt Mohamed, "war es eigentlich zu spät. Der Vater war ein alter, schwacher Mann, der kaum noch etwas zu sagen hatte."
Bis zur Ankunft der ersten Handys gab es in den Camps kein Telefon. So waren mit den Verwandten jenseits der Sandmauer nicht einmal Ferngespräche möglich. Auch ein funktionierendes Postwesen fehlte. Mohamed erinnert sich, dass die Leute jeweils Kassetten besprachen, die dann Reisende via Marokko in die Westsahara schmuggelten. Allfällige Treffen mussten jeweils Monate im Voraus eingefädelt werden.
Mohamed besuchte die Schule im Lager und konnte an einer algerischen Universität Englisch studieren. Wenn er jeweils die Ferien in Smara verbrachte, nahm er den Bus. Die Fahrt dauerte 48 Stunden. Mohameds älterer Bruder ging zum Medizinstudium nach Libyen. Nach Ghadhafis Sturz musste er das Land verlassen und ins Camp zurückkehren. Er verbrachte zwei verzweifelte Jahre, bis er ein kubanisches Stipendium erhielt. Nun beendet er sein Medizinstudium in Havanna. Vor zwei Jahren erkrankte die Mutter. Wer sollte sie pflegen? Die Familie rief Mohameds jüngeren Bruder, der ebenfalls in Algerien studierte, nach Hause zurück. So konnte er zugleich in Vaters kleinem Gemischtwarenladen mithelfen. Inzwischen führt er einen eigenen Shop. Die Sahraouis in den Lagern sind fast zur Gänze von internationaler Nahrungsmittelhilfe abhängig.(Marcus Reichmann)
Wie viele Sahraouis ist Mohamed zwar gebildet, aber er kann nichts mit seinen Diplomen anfangen. Die meisten Akademiker kehren nach ihrem Studienabschluss in die Lager zurück und unterrichten dort. Dadurch wird der Bildungsstandard immer noch höher; aber eine Wirtschaft mit Arbeitsplätzen existiert praktisch nicht. "Was soll ein Anlageberater hier in Smara?", fragt Mohamed rhetorisch. "Es gibt nicht einmal eine Bank." Er selbst bewirbt sich gerade in London um einen Platz für weiterführende Anglistik-Studien.
Staat auf Stand-byDie Westsahara ist ein Staat in den Startlöchern, auf Stand-by. Im Gegensatz zu den meisten andern Flüchtlingslagern der Welt verwalten die Sahraouis ihre Camps selbst, ohne nennenswerte Intervention, weder von Algerien noch von internationalen Institutionen. Sie unterstehen dem Frente Polisario, der politisch-militärischen Organisation der Sahraouis, und Mohamed Abdelaziz, dem Regierungschef der Republik Westsahara, deren Status als Staat international umstritten ist. Die Exilregierung hat ihren Sitz im Administrativ-Camp Rabuni; sie unterhält eine Armee, Polizei, Gerichte, Gefängnisse, Schulen, Spitäler, kulturelle Einrichtungen, eine Radio- und Fernsehstation sowie - seit einem Jahr - eine Universität.
Es gibt alles, was ein moderner Staat braucht, selbst ein Heim für behinderte Kinder. Dieses wurde 1997 von Buyema Fateh gegründet, der wegen seines Bartes allgemein Castro genannt wird. Vor dem Bau des Heimes wurden Behinderte einfach an einem Pflock im Zelt angebunden, wie Tiere. Castro selber war früher Schäfer, bevor er sich als Kämpfer dem Frente Polisario anschloss. In den neunziger Jahren hatte er dann plötzlich diese Idee, die allerdings weitherum auf Unverständnis stiess. "Ich brauchte sieben Jahre, um die Leute für mein Projekt zu sensibilisieren", sagt Castro. "Sie fanden, ich spinne." Er begann auf eigene Faust mit dem Bau eines kleinen Hauses, lehrte die Kinder Zähneputzen, selbständig auf die Toilette zu gehen, sich anzuziehen, bis 3 oder 4 zu zählen. Inzwischen ist sein Heim angewachsen und wurde vom Frente Polisario übernommen. Die Bilder der verwahrlosten Behinderten, angekettet oder in den Strassen herumirrend, gehören der Vergangenheit an. Castro macht jeden Morgen persönlich die Runde durch das Camp mit seinem alten Bus und holt die Kinder zu Hause ab. Es gibt ein Näh- und Handwerk-Atelier im Haus; manchmal bringen die Behinderten aus dem Verkauf ihrer Produkte sogar etwas Geld heim. "Das verschafft ihnen Respekt", sagt Castro. Er erinnert sich, dass er seinerzeit von einer Oase träumte. So sieht sein Heim mit den friedlich spielenden Kindern und den liebevollen Mitarbeiterinnen heute tatsächlich aus. Es dürfte nur wenige Flüchtlingslager auf der Welt geben, die wie Smara ein Heim für behinderte Kinder unterhalten.(Marcus Reichmann)
In den Camps gibt es sogar eine Filmschule. Wenn man deren Direktor fragt, warum es an diesem gottvergessenen Ort eine Filmschule brauche, antwortet er: "Heute ist Politik eine Sache der Medien. Wollen wir auf dem internationalen Parkett erfolgreich sein, brauchen wir Medienkompetenz." Die ersten Studenten haben den Lehrgang abgeschlossen; sie arbeiten teils für das Westsahara-TV, teils als Dozenten für den nächsten Studiengang. Im Fernsehstudio in Smara wurde kürzlich der erste grosse Dokumentarfilm fertiggestellt.
Neue Formen der Rebellion"Wir müssen bereit sein für den Tag X", hört man allerorts. Aber all den Anstrengungen zum Trotz gibt es zwei übermächtige Probleme. Erstens liegen die Camps und der unabhängige Abschnitt der Westsahara in einem der unwirtlichsten Teile der Welt, in der sogenannten Hammada, jenem Teil der Sahara, der auch "Teufelsgarten" genannt wird, weil das Thermometer im Sommer bis auf 50 Grad klettert, während es in den Winternächten bitter kalt wird. Vegetation gibt es praktisch keine, für Feuerholz muss man kilometerweit mit dem Auto fahren. Wasserknappheit ist ein permanentes Problem, und als ob das noch nicht genug wäre, wird die Bevölkerung auch noch von dauernden, grässlichen Sandstürmen geplagt.
Zweitens herrscht, nüchtern betrachtet, wenig Aussicht auf eine Veränderung der desolaten Situation. Zwar legt Christopher Ross, der Gesandte des Uno-Generalsekretärs für die Westsahara, eine auffällige diplomatische Aktivität an den Tag und gibt es Anzeichen, dass die USA den Druck auf Marokko erhöhen, vor allem, weil sie im Kampf gegen die terroristische Bedrohung in der Sahara an politischer Stabilität interessiert sind. Aber selbst Optimisten in den Camps rechnen nicht ernstlich mit einem Rückzug Marokkos aus der Westsahara in naher Zukunft.
Hie und da wird die Befürchtung geäussert, die Camps könnten sich zu einem Versteck und Rekrutierungsreservoir für Jihadisten entwickeln, vor allem seit der Entführung von drei europäischen Mitarbeitern aus den Lagern im Jahr 2011. Allerdings herrscht unter den Sahraouis ein moderater Islam vor, und insbesondere die Gleichberechtigung der Frauen ist weit entwickelt. Grösser dürfte die Gefahr sein, dass die junge Generation in den Camps die Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konflikts mit Marokko aufgibt und wieder zu den Waffen greift. "Seit 1991 verfolgen wir nun einen gewaltfreien, diplomatischen Kurs, der uns keinen Zentimeter vorwärtsgebracht hat", räsoniert beispielsweise Mohamed. "Sobald jedoch, wie in andern afrikanischen Ländern, ein paar Terroristen auftauchen, wird sofort interveniert, und die ganze Welt schaut hin."
Vorderhand setzen die Sahraouis auf kreative Aktionen, um die internationale Aufmerksamkeit auf ihre Situation zu lenken, und auch, um dem eigenen Leben in der Einöde einen Sinn und eine Richtung zu geben. So findet seit 2007 in Tifariti im freien Teil der Westsahara das jährliche internationale Kunstfestival ARTifariti statt. Die Spielregel lautet, dass die Teilnehmer ihre Werke in Tifariti herstellen sollen; nach dem Ende der Veranstaltung bleiben sie dort, im Museum von Tifariti und in der Umgebung. Dakhla, das abgelegenste der Lager, ist der Sitz von FiSahara, dem alljährlichen Filmfestival. Dem Sieger wird jeweils der Preis "Goldenes Kamel" überreicht. Seit vier Jahren wird auch ein Velorennen durchgeführt, 350 Kilometer dem marokkanischen Wall entlang; es ermöglicht den Teilnehmern, einen Einblick in die Lebensweise der Sahraouis zu bekommen. Und schliesslich wurde Ende Februar gerade wieder der "Sahara-Marathon" organisiert, der durch drei Lager führt.
Das alles sind Versuche eines innovativen, friedlichen Widerstands. "Vielleicht ist es nur Paracetamol, während wir eigentlich Antibiotika brauchten", meint Mohamed. Aber es ist immerhin der Versuch einer jungen Generation, etwas Neues auszuprobieren - weder Fatalismus noch Gewalt, weder Depression noch Aggression.
Das aufgeschobene Leben