Es ist eine kalte Nacht, der Atem kondensiert, das Licht der Straßenlaternen scheint orange-golden auf den still daliegenden Streifen Asphalt im Osten Frankfurts. Links und rechts erheben sich Lagerhäuser und Fabrikhallen. Was geht hier vor, während die meisten Menschen in der Mainmetropole schon längst im warmen Bett liegen?
Wie ein mächtiger Lindwurm streift ein LKW rauschen vorbei, auf der Seite prangt der Schriftzug eines großen Paketzustellers. Tief in den Eingeweiden dieses Geflechts aus Straßen, Schienen und Fabrikgeländen wird gearbeitet, brennen Neonröhren meterhoch an Hallendecken, laufen Förderbänder, köcheln chemische Produktionsanlagen. Jeden Tag in der Woche, zu jeder Uhrzeit. Aber da ist noch mehr. Die Frankfurter Gewerbegebiete sind voller versteckter Geheimnisse.
Der Streifzug beginnt in der Hanauer Landstraße. Dort gibt es ein Gebäude, so unscheinbar wie besonders. Mehrere Stockwerke hoch, Blitzableiter ragen im Abstand weniger Meter über die gigantischen Klimaanlagen auf dem Dach. Fenster sind keine zu sehen, aber die würden nur stören. Hunderte, wenn nicht tausende Server stehen dort dicht an dicht und werden rund um die Uhr überwacht. Lange Gänge, Menschen leer, schwarze Blöcke. Hier pulsieren Informationen aus aller Welt. Tag und Nacht.
Nur wenige Meter weiter brutzelt Fleisch auf heißen Edelstahlplatten, Gelächter schallt durch die von Fett geschwängerte Luft. In Filialen verschiedener Fast-Food-Ketten versorgen sich bis in den frühen Morgen Partygänger mit Burgern und Fritten und finden ein Fleckchen zum Aufwärmen, wenn das Stehen in der einen oder anderen Schlange zu lang und zu kalt war.
Denn auch das sind Frankfurts Gewerbegebiete bei Nacht: Ob in der Batschkapp oder dem Moon13, ob Rock und Pop oder Electro und Black Music, Frankfurts Industriegebiete bieten einige der beliebtesten Partylocations. Denn dort stört es Niemanden, wenn es mal wieder laut und spät wird. Und das wird es nicht selten. Gerade bei größeren Bands wird nach dem Konzert noch die Bühne abgebaut, nicht selten geht es dann direkt weiter in die nächste Tour-Stadt. Dann sieht man Busse mit schwarzen Scheiben durch die leeren Straßen huschen und es liegt ein Hauch von Glamour zwischen geparkten LKW und Lagerhallen, während die Konzertgäste schon weit weg in ihren Betten liegen.
Wobei - vielleicht nicht ganz so weit weg. Auch wenn es „Gewerbe"-Gebiet heißt, wohnen in einigen der industriellen Ecken Frankfurts sogar Menschen. Überall finden sich kleine Wohnhäuser, in denen auch spät abends noch Licht brennt. Ihre Bewohner sind sicher so vielfältig, wie alles in Frankfurt. Ob Hausmeister, Betriebsinhaber oder Menschen, die einfach günstigen Wohnraum suchten: Sie alle finden in den abgelegenen Teilen der Stadt ein Zuhause. Auch temporäre „Wohnungen" gibt es. Im Industriepark Höchst gibt es Schlafstätten für Notfallmanager, wie Michael Müller, Pressesprecher des Industrieparks, mitteilt.
„Natürlich haben wir Anlagen, die die ganze Nacht laufen. Da müssen wir auf Alles vorbereitet sein." - Michael Müller, Pressesprecher Industriepark Höchst
„Natürlich haben wir Anlagen, die die ganze Nacht laufen. Da müssen wir auf Alles vorbereitet sein." Auch die Werksfeuerwehr ist rund um die Uhr verfügbar. Schon 1880 gegründet, sorgen fast hundert Feuerwehrleute jeden Tag dafür, dass im Notfall schnell geholfen werden kann. Ihre Ausrüstung lässt den Brandmeister mancher mittelgroßen Stadt vor Neid erblassen. Manchmal ist es dann auch die Küche der Feuerwache, in der es nach frischen Burgern duftet.
Wo wir gerade beim Essen sind: Während die meisten ihren Mitternachtssnack gerne im Warmen genießen, müssen andere mit Weniger begnügen. Für drei LKW-Fahrer kommt das Fleisch heute vom Grill. Diesen haben sie zwischen sich und einer Zugmaschine und einem Anhänger aufgebaut. Gegen die Kälte helfen südosteuropäische Popmusik und ein wenig Wodka. Da macht auch die triste Umgebung nicht viel aus.
„Damals, in Potsdam, haben wir mit den Russen Billard gespielt. Und gesoffen! Hinterher dann die Gläser an die Wand, ganz nach Zarenart." - Geschichte eines Bulli-Fahrers
Die drei sind nicht die Einzigen, die heute Nacht dem Alkohol zusprechen. Auch im Cassella Eck in Fechenheim wird zwischen Wohngebiet, Schnellstraße und Industrieflächen dem Feierabendbier gefrönt. Ein weißbärtiger Mann sitzt allein an einem Tisch und unterhält den kleinen Raum neben dem Kiosk mit seinen Geschichten. „Damals, in Potsdam, haben wir mit den Russen Billard gespielt. Und gesoffen! Hinterher dann die Gläser an die Wand, ganz nach Zarenart."
Andere Gäste reagieren mit einer Mischung aus Neugier und Langeweile. Vielleicht kennen sie die Geschichten schon, ob sie stimmen, weiß niemand. Ein anderer Mann mit starkem Akzent stellt ihm eine Frage. „Ne, ich war nicht bei der Stasi. Bei der NVA war ich." Der Weißbärtige hat schon einige Bier intus, so klingt er jedenfalls.
Und es gibt noch mehr Geschichten. Einige von ihnen kennt Stadtführerin Anne Katrin Schreiner. Von Betonmischern, die nachts zwischen der Innenstadt und dem Betonwerk pendeln, da die Fundamente für Hochhäuser in einem Stück gegossen werden müssen und es keine Pausen geben darf. Von Containerterminals an denen jeden Tag und zu jeder Uhrzeit Waren umgeschlagen werden müssen und von Binnenschiffen, die zu später Stunde auf dem Main und in Frankfurts Häfen unterwegs sind.
Aber auch das ist sicher noch nicht alles. Wer noch mehr über die nächtlichen Aktivitäten in Frankfurts Gewerbegebieten erfahren möchte: Laue Sommernächte eignen sich nicht nur dazu, sie am Main oder im Biergarten zu verbringen. Eine kleine Erkundungstour mit dem Rad in Frankfurts abgelegenen Ecken wäre vielleicht auch mal eine Idee.