Marcel Richters

Onlineredakteur, Frankfurt am Main

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Artikel

„Wir können die Gentrifizierung nicht aufhalten, beschleunigen wir sie!"

Wenn es Nacht wird im Frankfurter Bahnhofsviertel, erwacht der Stadtteil erst so richtig zum Leben. Bordelle und Drogenszene, WG-Parties und Asialäden - diese Mischung macht das Viertel aus. In den vergangenen Jahren sind zunehmend auch Menschen in Kostüm oder Anzug in den Bars und Restaurants zu finden. Natürlich zieht eine solche Mischung Künstler und Kreative an. So auch jene Gruppe, die sich als „Frankfurter Hauptschule" einen Namen gemacht und mit ihren Kunstaktionen schon mehrmals gleichermaßen Empörung und Begeisterung hervorgerufen hat.


Ob der Aufruf, Liebesschlösser am Eisernen Steg zu entfernen, die beinahe verbotene „Heroin-Performance" auf den Stufen des Römers oder zuletzt ein abgebranntes Polizeiauto mitten im Bahnhofsviertel - das Kunstkollektiv mag das Extreme. Die letzten beiden Aktionen sollten auf die Verdrängung von Drogensüchtigen im Bahnhofsviertel und die Umgestaltung des Quartiers aufmerksam machen. Und tatsächlich: Seit mehreren Jahren schon verändert sich das Viertel im Herzen Frankfurts. Die Aufwertung von „öffentlichem und privatem Freiraum" sowie eine „deutlich wahrnehmbare Imageverbesserung" sind erklärtes Ziel des Stadtplanungsamtes. Aber kann Kunst etwas gegen die Gentrifizierung, die systematische Aufwertung des Bahnhofsviertels, bewirken? Oder ist sie sogar schädlich?


Kunst kann in verschiedene Richtungen wirken

Privatdozent Dr. Lars Meier ist Vertretungsprofessor für Soziologie mit dem Schwerpunkt „Soziale Ungleichheit" an der Goethe-Universität und hat bereits zur Stadtsoziologie und sozialen und räumlichen Veränderung geforscht. Seiner Ansicht nach kann Kunst im öffentlichen Raum sowohl in die eine, als auch die andere Richtung wirken: „Künstlerische Aufführungen können einerseits einen Beitrag zur einer Aufwertung eines Stadtviertels leisten", erläutert Meier.

„Künstlerische Praktiken können Verdrängungsprozesse sichtbar machen." - PD Dr. Lar Meier, Soziologe an der Goethe-Universität

„Andererseits können kritische künstlerische Praktiken, die deutlich die Verdrängung von unterprivilegierten Gruppen benennen und Verdrängungsprozesse sichtbar machen, einen wichtigen Beitrag zu einem wirklichen öffentlichen Raum leisten, der Begegnungen zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen und Schichten ermöglichen sollte."


Was aber bestimmt, in welche der beiden Richtungen Kunst wirkt? „Entscheidend für die Wirkung der künstlerischen Praktiken ist sicherlich wer damit adressiert wird", so Meier weiter. „Treten Künstler für die Rechte von benachteiligten Gruppen ein, sind positive Effekte abhängig von Faktoren wie der Dauer der künstlerischen Aktion oder der Beteiligung von Angehörigen der Gruppen."


Die „Hauptschüler" selbst sind sich bewusst, dass Kunst dazu beitragen kann, ein Viertel attraktiver zu machen und damit die von ihnen kritisierte Verdrängung zu fördern: „Wir können die Gentrifizierung nicht aufhalten, beschleunigen wir sie", ist ihr Motto. Damit erinnern sie an eine ausgefallene philosophische Denkrichtung, den Akzelerationismus. Diese kapitalismuskritische Strömung - und kapitalismuskritisch ist auch das Kunstkollektiv nach eigener Aussage - will die aktuelle Gesellschaftsform so weit beschleunigen, dass sie sich selbst überholt und zusammenbricht. Aber damit wollen die „Hauptschüler" nichts zu tun haben. Ihre Kunst sei angelehnt an die „Antikunst" der 1920er Jahre, den Dadaismus. Dessen Ziel war es, hergebrachte Kunstformen zu parodieren und der bürgerlichen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Die Künstler setzen mit ihrem morbiden Einschlag noch eins drauf: „DADADA - Dark Dada" ist ihr Name für das, was sie tun.


Entsprechend sind es auch keine Utopien, die ihre Kunst entwirft, keine Träume von einer besseren Zukunft. Ganz im Gegenteil. Sie zeichnen ein düsteres Bild, wenn sie von „vercrackten Junkies" sprechen, die im Bahnhofsviertel „patroulieren":

„Dystopien fühlen sich gerade einfach realer an als Utopien. Vielleicht haben wir darum die Dystopie von einem Bahnhofsviertel, dass von Junkies kontrolliert wird, zu unserer Utopie gemacht." - Frankfurter Hauptschule

„Dystopien fühlen sich gerade einfach realer an als Utopien. Vielleicht haben wir darum die Dystopie von einem Bahnhofsviertel, dass von Junkies kontrolliert wird, zu unserer Utopie gemacht. Ist eventuell Geschmackssache", erklärt die Gruppe. Würden sie denn selbst in so einem Viertel leben wollen? „Das Bahnhofsviertel ist schon ganz interessant. Die meisten von uns wohnen auch da. Es hat einen gewissen Kitzel. Davon können wir uns nicht frei machen. Und das wollen wir auch ganz offen ausstellen." Darum wollen sie auch noch mal nachlegen. Aber erst in ein oder zwei Jahren, denn sie wollen nicht „zu einem lokalen Grußaugust" verkommen.


Im Viertel ist man geteilter Meinung

Die Reaktionen auf die Aktionen sind gemischt: „Viele finden es natürlich sehr gut. Aber manche auch nicht. Eine Mail kam von jemandem, der gedroht hat, uns anzuzünden." Bei jungen Künstlern dürfen natürlich auch soziale Netzwerke nicht fehlen. Dass das Feedback von „Freunden" und „Followern" dort meist positiv ist, verwundert wenig. Von realen Freunden gebe es aber auch kritische Stimmen. „Platt", „reißerisch" und „geschmacklos" sind die Worte, die fallen. Solche Kritik tut das Kollektiv dann gerne auch mal halb-ironisch als „provinziell und reaktionär" ab. Besondere Verwunderung rief die Stellungnahme des Präsidenten des Gewerbevereins Bahnhofsviertel Ulrich Mattner bei der Gruppe hervor. Er hatte die Aktion verteidigt, aber „beschwert sich über die schlimmen Zustände und zu wenig Polizei im Viertel. Was völlig absurd ist", da er selbst als „halbseidener Fotograf Junkies im Viertel portraitiere", wie es die Künstlergruppe ausdrückt.

Im Verhalten der Drogenkonsumenten im Viertel erkennt die Gruppe Bestätigung: „Sehr erfreut haben uns die Reaktionen der Junkies, die das Auto als Spielzeug im täglichen Viertel-Parcours angenommen haben." Anders sieht es Stadtrat und Ordnungsdezernent Markus Frank. Er hatte die Bezeichnung „vercrackte Junkies" und das abgebrannte Polizeiauto eine „Respektlosigkeit gegenüber Polizeibeamten und Suchtkranken" genannt. Die Künstler sehen das ganz und gar nicht so: „Wir mögen Junkies, besonders die völlig vercrackten und anarchischen."

„Wir sind selber Teil der Drogenszene im Bahnhofsvierte lund haben selber eine Weile sportlichen Ehrgeiz an den Tag gelegt, auf jedem Kneipenklo im Viertel wenigstens einmal was zu ziehen." - Frankfurter Hauptschule

Dass Konsumenten so als Randgruppe weiter „exotisiert" werden könnten, fürchten die Künstler nicht. Auch sehen sie in ihren Werken keine „Drogenromantik": „Wir sind ja selber Teil der Drogenszene im Bahnhofsviertel und haben selber eine Weile sportlichen Ehrgeiz an den Tag gelegt, auf jedem Kneipenklo im Viertel wenigstens einmal was zu ziehen." Zwischen Crack und Kokain gibt es - zumindest was die öffentliche Wahrnehmung angeht - einige Unterschiede. Kokain ist eine Leistungsdroge und nicht gerade billig. Dass sie damit eher Teil einer „sozial akzeptierten" Drogenszene sind, dessen sind sich die Künstler durchaus bewusst. Da stellt sich natürlich die Frage nach ihrer eigenen sozialen Herkunft. „Wir sind alle Ärztekinder. Tatsächlich. Wir kennen allerdings auch Junkies im Viertel, die Ärztekinder sind." Dass sie sich selbst zu den Bessergestellten zählen, stellt für die Künstler kein Problem dar, wenn es um ihre Kunst geht: „Dürfen wir was mit Junkies machen obwohl wir keine sind? Damit haben wir kein Problem. Hätte Nabokov Lolita nicht schreiben sollen, weil er kein Kinderficker war? Letztlich ist jede Kunst Appropriation."


Die Drogenszene bleibt weitestgehend ungerührt

Was sagen diejenigen dazu, um die es geht? Was sagen Drogenkonsumenten, wenn „Ärtzekinder" ihr Viertel und ihre Szene zum Gegenstand ihrer Kunst machen? In einer Bar im Bahnhofsviertel erzählt Frank, der schon lange mit der Szene arbeitet, von den Reaktionen. Frank heißt eigentlich anders, möchte aber seinen echten Namen nicht hier lesen. Das Echo aus dem Kreis seiner Klienten schwanke zwischen vorsichtiger Begeisterung, ironischer Distanz und Abneigung.

„Wenn sie wen sehen wollen, der sich einen Schuss setzt, können sie auch bei mir vorbeikommen" - Kommentar eines Drogenkonsumenten

„Wenn sie wen sehen wollen, der sich einen Schuss setzt, können sie auch bei mir vorbeikommen", war einer der Kommentare nach der „Heroin-Performance" der „Frankfurter Hauptschule". Wie steht es um die von Dr. Meier erwähnte „Beteiligung von Angehörigen" benachteiligter Gruppen an den Aktionen? „An den meisten gehen solche Aktionen vollkommen vorbei", sagt Frank.


Was vielen Beobachtern verborgen zu bleiben scheint: Die Drogenszene im Bahnhofsviertel besteht aus einzelnen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, auch und gerade zu diesem Thema. So sehen viele Drogenkonsumenten Polizeibeamte nicht als Feindbild. „Die machen auch nur ihren Job", heißt es da eher. Und den machen sie in den vergangenen Jahren gar nicht so schlecht, erzählt Frank. Das Vorgehen sei weniger repressiv, als früher. Drogenkonsumenten werden als Kranke anerkannt. Man versuche, sich miteinander zu arrangieren. Vielleicht fiel auch deswegen die Reaktion von Polizeipräsident Bereswill so heftig aus. Er hatte die Kunstaktion als „absolute Respektlosigkeit" bezeichnet und sogar die Grenzen der Kunstfreiheit als erreicht gesehen.

„Öffentliches Elend ist kein Lifestyle." - Frank, Mitarbeiter in der Suchthilfe

So kritisch betrachtet Frank die Sache nicht. Doch auch er findet die Kunstaktion fragwürdig. Die Ziele seien sicher richtig, aber „öffentliches Elend ist kein Lifestyle", betont er. „Zu sagen, dass es so bleiben soll, ist schwierig. Niemand sucht sich das freiwillig aus." Er spricht aus, was auch Dr. Meier sagt und eine Reihe von Studien bestätigen: „Kreative sind oftmals Vorreiter der Gentrifizierung", wenn auch nicht immer.


 Im Bahnhofsviertel hat Frank die Vorreiterrolle schon am eigenen Leib erfahren. Früher ging er gerne in die Terminus-Klause. Dort wurde er schon zwei Mal „raus komplementiert, weil dort gerade Kunst gemacht wurde". Inzwischen will er auch gar nicht mehr in die Kneipe: „Zu viele hippe junge Menschen." Auch vor Frank macht die Veränderung nicht halt. Er sieht es mit gemischten Gefühlen: „Wandel ist normal. Aber Verdrängung beginnt halt dort, wo ich mir sage: Da gehe ich nicht mehr hin."

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