Ich diskutierte neulich mit einem Bekannten den Akt des Schaffens und eröffnete ihm nach einigen Gläsern Wein, dass ich mich, selbst nach über 15 Jahren mehr oder minder kontinuierlichem Schreiben, davon 5 gar hauptberuflich, vor jedem weißen Blatt immer noch wie ein blutiger Amateur fühlte. Gar wie ein Trittbrettfahrer, der nur vorgebe, Künstler zu sein. Unvermittelt fiel mir mein Bekannter ins Wort, was sei denn das überhaupt für ein Ausdruck, Künstler, ich sei allenfalls Kreativer. Künstler, das seien doch arme, überambitionierte Würste, die in zugigen Mansardenwohnungen hausten und nichts vernünftiges zustande brächten. Würste, die, wenn überhaupt, allenfalls posthum durch ein paar nette Bilder bekannt würden und dann von einer Schar pseudointellektueller Kenner oder Kritiker alles Mögliche in den Mund gelegt bekämen. Verlauste Gestalten, die dem Vergleich zu Ingenieuren, Managern, ja selbst Arbeitern und erst recht uns professionellen Kreativen , kurzum: Menschen, die wirklich etwas bewegten, nicht standhielten und ständig Freunden, Familien und erst Recht Vater Staat auf der Tasche lägen. Sein zugegebenermaßen ernüchterndes Resümee war schließlich, dass die allermeisten im Angesicht ihrer häuserplanenden gleichaltrigen Freunde sich irgendwann einer richtigen Arbeit widmeten (müssten), wie sie es von Anfang an hätten tun sollen.
Später, auf dem Weg nach Hause, ließ mich diese Diskussion nicht los. Ich war von seiner Art nicht schockiert, bestätigte sie doch meinen allgemeinen Eindruck seiner Person, doch ließ sie mein Selbstverständnis dennoch erschüttert zurück- Künstler oder Kreativer? Hatte man eine Wahl? Hatte ich mich irgendwann am Scheideweg meiner Ambitionen befunden und unbewusst den falschen Weg eingeschlagen? Was war der Unterschied?
Zuallererst einmal ist ein Künstler jemand mit einer Idee. So weit, so gut. Eine neue Bild- oder Formsprache, eine neue Perspektive, eine neue, nicht erdachte Ordnung der Dinge. Der Unterschied zum Kreativen musste in der Findung ebensolcher sein. Und genau dort liegt der Hund begraben: Der Kreative eine Idee für die Welt, während der Künstler eine Idee der Welt schafft. Dabei wird seine unbändige Energie, das also, was mein Bekannter mit überambitioniert zu erklärten versuchte, von der Idee und ihr allein gespeist. Dabei denkt er nicht zwangsläufig an ihren übergeordneten Nutzen oder an die durch sie verursachten Umwälzungen, sondern existiert, solange er schafft, im steten Momentum einer vagen Vision. Er ist, um klassisch zu sprechen, das bloße Werkzeug der Idee. Insofern ist der letzte Absatz natürlich leichtfertig misszuverstehen, nur weil der Künstler jemand mit einer Idee , besitzt er sie nicht. Er mag sich wähnen, sie zu haben und es auch auszusprechen, den klassischsten aller Sätze: Ich habe eine Idee! , doch vielmehr wird er von ihr besessen. Das Wesen des Künstlers wird von ihr ergriffen und schließlich ganz und gar vereinnahmt.
Dieses steht im krassen Gegensatz zum Kreativen, wie wir ihn zum Beispiel in der namensgebenden Wirtschaft antreffen. Er ist vorrangig bemüht, ein Problem zu lösen oder eine Aussage zu beweisen; er ist also ein Dienstleister. Auch seine Kreativität dient einem höheren Ziel, allerdings ist dieses im Unterschied zum reinen Künstler von Vorhinein gesteckt. Kurzum: Der Kreative sucht nach einem Weg von A nach B, der reine Künstler hingegen weiß gar nicht, dass er irgendwo startet, noch hat er ein klares B. Überspitzt ausgedrückt hält er sich an solcherlei Formeln überhaupt nicht auf. Alles, was er sieht, ist der nächste Strich, Buchstabe, die nächste Form oder Aussage und keine davon bringt ihn einem klar definierten Endziel jedweder Art näher, selbst das fertige Werk nicht, es stellt wiederum nur einen Strich, Buchstaben, eine Form oder Teilaussage der großen Idee, die er bemüht. Jeder Gedanke ist bloß der nächste, blinde Schritt auf unbekanntem Terrain.
Ich denke, hier liegt auch das Problem der Anerkennung künstlerischen Schaffens in einer noch immer durch preußische Arbeitsethik dominierten Gesellschaft: Obgleich wir im Zuge der rasanten Digitalisierung und Maschinisierung mittlerweile sehr wohl erkannt haben, dass unsere Wissens- und Wohlstandsnation mangels anderer, etwa natürlicher Ressourcen allein von der Kultivierung einer lebendigen kreativen Ader lebt, bleibt uns der scheinbar ziellose, reine Künstler, der seine Denke keinem greifbaren Zweck unterordnet, weiter fremd. Sein Schaffen lässt sich nicht messen noch direkt monetarisieren, daher sei seine Funktion einzig die Zerstreuung des Volkes, sofern er denn das Glück hat, eine zufällige Schnittmenge zwischen seiner und ihrer Welt zu finden. Schafft er dies nicht, so wird er erbarmungslos von ihr ausgegrenzt.
Was also macht den reinen Künstler für den Fortschritt überhaupt wertvoll? Wie schon früher ausgeführt, ist er nunmehr das Werkzeug einer sich durch ihn in die Welt manifestierenden Idee respektive ihrer Energie. Diese wird nun, ob durch ihn gewollt oder nicht, Widerhall finden, indem sie, einmal der Öffentlichkeit ausgesetzt, der Kritik anheim fällt. Wir wollen uns an dieser Stelle nicht nur auf den Begriff der professionellen Kritik beschränken, da jeder Betrachter beispielsweise eines Bildes durchs bloße Betrachten unvermeidlich und augenblicklich Kritiker wird, selbst wenn seine Meinung durch Konvention oder fehlende Charakterstärke unausgesprochen bleiben sollte. Die wahre Kraft einer Idee entfaltet sich dem zum Trotz an genau jener Stelle: Das Werk berührt in einer Weise, es nimmt also Einfluss und nimmt es Einfluss, so inspiriert es: Zu Worten, Taten oder Gedanken, auch hier: ausgesprochen oder nicht. Selbst eine für den Mann auf der Straße augenscheinlich sinnlose Installation bewegt mindestens ihn in einer Weise, auf gutem Nährboden gar Welten auf eine ganz andere. Inspiriert sie doch nun durch die vom Künstler in die Welt katalysierte Energie alles und jede mögliche Reaktion, vom Runzeln der Stirn über den empörten Leserbrief bis hin zur Lösung - siehe da - eines Problems! Denn ganz gleich, ob diese Inspiration bewusst oder unterbewusst vonstattengeht:
Hier, in der direkten Reaktion mit dem Menschen, entfaltet sich der Nutzen des reinen Künstlers. Er, beziehungsweise die durch das Werk in die Welt gesetzte Energie der Idee, beflügelt Generationen von kreativen Problemlösern; Ingenieure, Architekten, Programmierer, gar Mathematiker und nicht zuletzt den Mann auf der Straße. Sie alle können davon zehren und selbst schaffen. Ein Bild kann die Initialzündung zu einer architektonischen Idee, eine Skulptur Ausdruck einer mathematischen Lösung sein. Alles geboren aus eben jenem eigentlichem Problem: Die Unvereinbarkeit mit dem direkten Nutzen provoziert Interpretation und diese Auseinandersetzung mit dem Werk beflügelt schließlich Inspiration, Lösungen, Worte, Taten, von denen der eigentliche Erschaffer selbst nie zu träumen wagte. Deshalb bleibt der reine Künstler ein eminentes Glied in der Kausalkette des Fortschritts. Er verkörpert die unbekannte, unberechenbare Variabel, den göttlichen Funken, der gleichermaßen inspiriert ist wie er andere inspiriert, und mitunter, ein Feuer zu entzünden vermag.
Ob ich denn nun eine Antwort auf meine eigentliche Frage, Künstler oder Kreativer, gefunden habe? Nun, mein Problem habe ich hier jedenfalls nicht gelöst.