1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Philosoph Richard David Precht über Jens Spahn: "In seiner Haut möchte man nicht stecken"

Philosoph Richard David Precht: "Das Recht auf Leben wiegt höher als das Recht auf einen Arbeitsplatz"

Richard David Precht macht sich Sorgen um unsere Gesellschaft. In seinem neuesten Buch fordert er mehr Gemeinschaftssinn und bringt einen Begriff zurück in die Debatte, der in Deutschland lange Zeit in Vergessenheit geraten war: Die Pflicht.

Watson hat mit ihm darüber gesprochen, warum viele Menschen den Staat vor allem als Dienstleister sehen, dabei aber verkennen, dass auch Bürger eine Pflicht haben und weshalb Precht deshalb nun ein sogenanntes Pflichtjahr für junge Menschen, aber auch Senioren fordert.

Früher hat der Staat seine Bürger zum Kriegsdienst gezwungen und dann in Kriegen verheizt. Es ist ein enormer Fortschritt, dass wir das heute nicht mehr haben. Ich erinnere mich noch an die Angst meines Großvaters vor der Staatsgewalt. Er hat das Kaiserreich und das Dritte Reich erlebt. Wenn der einen Polizisten gesehen hat, stand er unwillkürlich strammer. Heute leben wir in einem Land, in dem wir vor der Polizei keine Angst mehr haben müssen.

Wie wirkt sich das aus? Zum Beispiel in der Art, wie wir Politiker kritisieren. Für viele Menschen sind Politiker Deppen. Das ist eigentlich eine kindliche Sicht auf die Dinge. Dass die Politik in der aktuellen Krise einiges falsch gemacht hat, ist völlig klar, aber das sind keine Idioten, die da regieren.

Besonders Jens Spahn. Der steht jeden Freitag in der Bundespressekonferenz, die für jeden Bürger live einsehbar ist, für die Fehler bei der Pandemiebekämpfung. Er hat auch selbst einiges dazu beigetragen, aber klar, in seiner Haut möchte man nicht stecken. Zunächst war er als Kanzlerkandidat gehandelt worden, doch je länger die Pandemie dauerte, desto mehr konnte er falsch machen und wurde zum Buhmann der Nation.

Und mit Michael Wendler und Attila Hildmann hat die Bewegung prominente Köpfe. Was man eben so als prominent wahrnimmt (lacht).

Was bewegt den Anteil der Menschen, die bei solchen Demos mitlaufen, aber nicht an Verschwörungsmythen glauben? Es gibt auch eine gewisse Prozentzahl an Menschen, die einfach einen starken Widerwillen gegen den Staat haben und das in allen politischen Lagern. Das gibt es bei Rechten wie bei Linken. Es gibt dort aber auch Leute, denen durchaus bewusst ist, wie gefährlich Corona ist - die aber der Meinung sind, dass es nicht so schlimm ist, wenn einige alte und schwache Menschen sterben, wenn man dafür die Wirtschaft retten kann.

Das heißt, wir kommen hier zur Abwägung zwischen Wirtschaft und Menschenleben? Ja, und da hat der Staat ehrlich gesagt keine Wahl. Das Recht auf Leben wiegt höher als das Recht auf einen Arbeitsplatz. Das eine ist ein Grundrecht. Das andere ist, so formuliert zumindest, kein Grundrecht.

Einige Kritiker sagen, diejenigen die sterben, haben sowieso nicht mehr viele Lebensjahre vor sich. Wer das sagt, steht nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Dort steht, die Würde des Menschen ist unantastbar. Wenn der Staat jetzt anfängt, den Lebenswert einzelner Menschen nach Alter oder Gesundheit abzuwerten, dann leben wir in einem anderen Staat. Das ist dann dem Dritten Reich ähnlicher als der Bundesrepublik, wie wir sie kennen.

Zum Original