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Eiskunstlauf-Skandal: Schneewittchen, die Eishexe und der Schlagstock - SPIEGEL ONLINE

Detroit, Michigan, 6. Januar 1994. Nancy Kerrigan dreht noch eine letzte Runde auf dem Eis-Oval der Tony Kent Arena. Jeder Sprung, jede Pirouette sieht so leicht aus, wie man es von einer Favoritin auf den Olympiasieg erwartet. Makellos wie das Weiß ihrer Schlittschuhe, ihres Haarbands, ihres Rüschenkleidchens. Die 24-Jährige ist entspannt und zugleich konzentriert, ihr Ziel bei den anstehenden Winterspielen in Lillehammer: Gold. Sie hat keine Augen für die beiden Männer, die auf der Tribüne der Halle sitzen, lauern. Auch sie haben ein Ziel: Geld.

Shane Stant und Derrick Smith haben einen Fluchtwagen organisiert und einen Schlagstock dabei, schwarz lackiert und zusammenschiebbar, damit Stant ihn in seiner Lederjacke verschwinden lassen kann. Die beiden wollen endlich ein bisschen mehr vom Leben, dafür sind sie hierhergekommen, aus Portland, Oregon. Sie haben Träume. Damit die sich erfüllen können, soll Kerrigans Traum enden. Hier und jetzt, am 6. Januar 1994 in Detroit.

Als Kerrigan das Eis verlässt, sich die roten Schoner über ihre Schlittschuhkufen zieht und durch den Vorhang in die Katakomben der Halle tritt, in Richtung ihrer Kabine, folgt ihr Stant in wenigen Metern Entfernung. Es gibt Filmaufnahmen, die die junge US-Amerikanerin in diesen Sekunden zeigen, losgelöst von der Wucht der Geschichte sind es unspektakuläre Bilder, sie zeigen die Routine eines Athleten. Die nächsten Bilder, die von Kerrigan gemacht werden, gehen um die Welt.

Ein roter Läufer führt aus der Halle in den Kabinentunnel. Darauf kauert Kerrigan, das Gesicht verzerrt vor Schmerz und Schock. Sie schreit, dann ruft sie: "Warum?", immer wieder: "Warum?". Schnell sind Menschen bei ihr, Trainer, Sanitäter, Offizielle. Jemand habe sie geschlagen, mit einem "schwarzen, harten Stock", presst Kerrigan hervor. Ein Schlag auf ihr rechtes Knie, das Knie des Beines, auf dem sie ihre Sprünge landet.

Ein Job für 6500 Dollar

Das Warum war bald beantwortet: Kerrigan sollte nicht mehr springen - das war der Plan. Er habe nur einmal zugeschlagen, hart, "aber nicht so hart, dass Knochen gebrochen sind", erinnert sich Shane Stant 20 Jahre später. Stant heißt da allerdings schon lange nicht mehr Stant, er hat einen neuen Namen, angeblich dank Gesichtschirurgie auch ein neues Aussehen. 14 Monate musste der damals 22-Jährige für seine Tat ins Gefängnis. Sein altes Leben wollte er danach hinter sich lassen. Er verließ seine alte Heimat Oregon, zog nach Südkalifornien, später in die Einsamkeit von Montana. Er will nicht erinnert werden an seine Vergangenheit, auch nicht darüber reden.

Wenn man trotzdem versucht, ihn zu erreichen, Bürgermeister und Kneipenwirte anruft in Gemeinden, in denen Stant wohnen soll und am Ende tatsächlich eine Nummer bekommt, unter der ein Mann den Hörer abnimmt und man fragt "spreche ich mit Shane Stant?", dann hört man kein "nein", dann hört man nur "klick". Und das Gespräch, das keines war, ist beendet.

Nur für den US-Journalisten Matt Crossman machte Stant in diesem Jahr eine Ausnahme. Lange habe er gebraucht, um ihn zu überzeugen, so Crossman. Letztlich stimmte Stant dem Gespräch zu, er wollte die Welt wissen lassen, dass er ein neuer Mensch sei, ein besserer. Im Gefängnis sei er religiös geworden, er habe erkannt, dass er ein Idiot war und ein Krimineller. Entschuldigt hat er sich bei Kerrigan für das Attentat nie.

6500 Dollar hatte Stant damals bekommen von seinem Onkel Derrick Smith, der andere Mann damals in der Eishalle, der Fahrer des Fluchtwagens. Er solle eine Eiskunstläuferin außer Gefecht setzen, lautete der Auftrag. Der Plan stammte von Smith, Shawn Eckhardt und Jeff Gillooly, dem Ehemann von Tonya Harding, Kerrigans großer Rivalin.

Die Eishexe

Tatsächlich kann Kerrigan bei der nationalen Qualifikation nicht starten. Dennoch darf sie auf Beschluss des US-Komitees zu den Winterspielen reisen, als zweite Starterin neben Harding, die sich qualifiziert.

Harding war eine gute Eiskunstläuferin, zeitweise sogar eine sehr gute. 1991 hatte sie als erste US-Amerikanerin einen Dreifach-Axel in einem Wettbewerb gesprungen. Aber sie war vor allem das genaue Gegenteil von Kerrigan. Die hatte Eleganz, Harding hatte Athletik. Kerrigan sah mit ihren langen dunklen Haaren aus wie Schneewittchen, die blonde Harding war schon vor dem Attentat für manche die Eis-Hexe.

Anders als Kerrigan kam Harding auch nicht aus einer funktionierenden Familie, in den USA nennt man die Umstände und sozialen Kontakte unter denen Harding aufwuchs "White Trash". Ihre Mutter schlug sie regelmäßig mit der Hand oder einer Haarbürste, wenn sie die Tochter für einen Wettkampf zurechtmachte. Das sonst so elitäre Eiskunstlaufen sei ihr Zufluchtsort, sagt Harding in der ESPN-Dokumentation "The Price of Gold", der Preis des Goldes. Der Sport sei Hardings einzige Chance, es "aus der Gosse nach oben zu schaffen", sagt ihre Trainerin Diane Rawlinson.

Ruhm bekommt Harding für nationale Erfolge, aber kaum Geld. Harding weiß: Gold bei Olympia würde alles ändern. Doch sie muss erst die nationale Qualifikation schaffen, genau wie Kerrigan, die 1992 in Albertville bereits Bronze gewonnen hatte. Um es nach Lillehammer zu schaffen, quält sie sich im Training. Aber war sie auch bereit, anderen Schmerzen zufügen zu lassen?

Beweise in Müllsäcken

Ihr Ex-Mann Gillooly wird genau das später vor Gericht behaupten, beide belasten sich gegenseitig schwer. Anders als Stant spricht Harding oft über das Attentat und alles, was danach geschah. Sie ist kein anderer Mensch, hat sich kaum verändert, in ihrem Wesen zumindest, so sagt sie. Warum auch? Sie habe sich kaum etwas zuschulden kommen lassen, von dem Plan habe sie nichts gewusst. Zumindest nicht von Beginn an, erst nach dem Attentat habe sie nach und nach herausgefunden, dass ihr Mann, mit dem sie damals schon nicht mehr zusammen war, aber noch zusammen in einem Haus lebte, für den Angriff mitverantwortlich war.

Dagegen spricht der Fund, den Kathy Peterson am 30. Januar hinter ihrem Restaurant macht. Neben den eigenen Müllsäcken findet sie weitere Säcke. Peterson ist sauer, sie will wissen, wer so dreist war - und öffnet einen der Säcke. Sie findet Zettel, auf denen Pläne für das Kerrigan-Attenat aufgezeichnet sind - inklusive Namen: Eckhardt, Gillooly, Stant, Smith. Und Harding. Deren Handschrift wird später vom FBI identifiziert. Anders als die vier Männer kommt sie aber mit einer Bewährungsstrafe und Sozialstunden davon.

Als Drahtzieher gilt Eckhardt. Dessen Freund Gene Saunders hatte den damals 26-Jährigen als verdächtig gemeldet. Er sei Personenschützer, hatte Eckhardt oft geprahlt, erinnert sich Saunders. Doch geglaubt habe er ihm nicht, Eckhardt sei immer recht großmäulig gewesen. Daher glaubt Saunders Eckhardt auch nicht, als dieser ankündigt "etwas mit einer Eiskunstläuferin" zu planen. Er wolle durch ein Attentat deutlich machen, wie wichtig Personenschutz sei und dann einen Job in der Branche bekommen. Als Saunders dann von dem Angriff auf Kerrigan erfährt, zählt er eins und eins zusammen und versucht vergeblich, Eckhardt zu überreden, sich zu stellen. Saunders schaltet das FBI ein, das Eckhardt abhört und ihn überführt.

Am 12. Januar, nicht einmal eine Woche nach dem Attentat und genau einen Monat vor Beginn der Winterspiele, gesteht dieser die Planung der Tat und nennt seine Komplizen.

Gemeinsam aufs Eis

Harding wird erst Mitte März 1994 verurteilt, sie startet wie Kerrigan in Lillehammer. Das Olympische Komitee lehnt einen Einspruch der Amerikaner ab, dass beide Starterinnen getrennt trainieren dürfen. Sie müssen gemeinsam aufs Eis - und ignorieren einander, so gut es geht. Beim Wettkampf schließlich hadert Harding mit ihren Schlittschuhen, ein Schnürsenkel reißt, sie wird am Ende Achte. Gut, aber weit entfernt vom Traum von Gold. Viel weiter als Kerrigan, die die vielleicht beste Kür ihres Lebens läuft. Und mit dem knappsten Ergebnis der Geschichte, einem Zehntelpunkt, Zweite wird hinter der Ukrainerin Oksana Bajul.

Für Kerrigan und Harding war es der letzte große Wettkampf, beide beenden danach ihre Karrieren. Harding sucht dennoch immer wieder das Scheinwerferlicht. Sie versuchte sich im Boxen, bei Eislauf-Revuen und in Talkshows.

Für Kerrigan hingegen war es zugleich der vollständige Rückzug aus der Öffentlichkeit. Zum 20. Jahrestag machte sie für eine TV-Dokumentation eine Ausnahme. Was sie im Nachhinein über ihre Angreifer denke, wurde sie gefragt. Kerrigan antwortete: "Ich hatte einfach großes Glück, dass es extrem untalentierte Verbrecher waren."

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