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Turnerin Simone Biles: Die Galaktische - SPIEGEL ONLINE

Man muss mit Alexandra "Aly" Raisman anfangen, um Simone Biles zu erklären. Raisman hat 2012 in London Gold mit der Mannschaft und am Boden gewonnen. Damals war sie 18 Jahre alt. In Rio ist Raisman Teamchefin der US-Turnmannschaft, sie hat erneut Mannschaftsgold gewonnen sowie Silber im Mehrkampf und sich wieder für das Finale der besten Acht am Boden qualifiziert. Dort turnte sie eine Übung, die in der Schwierigkeitswertung, dem D-Score, einen Wert von 6.6 hat.

Die Konkurrentinnen aus Großbritannien, Japan, China und Italien wählten Übungen mit einem D-Score zwischen 6.1 und 6.4, an Raismans Niveau traute sich keine von ihnen heran. Dass Raisman eine Klasse besser ist als die anderen Starterinnen, lässt sich beim E-Score erkennen, der Ausführungsnote. Mit einem Score von 8.9 hat sie einen gewaltigen Vorsprung vor Amy Tinkler aus Großbritannien (8.533).

Raisman ist die mit Abstand beste Bodenturnerin der Welt. Denn Simone Biles scheint nicht von dieser Welt zu sein.

Biles, 19 Jahre alt, startete in Brasilien zum ersten Mal bei Olympischen Spielen. 2012 war sie ein paar Monate zu jung. In Rio hatte sie vor dem letzten Wettkampf am Boden schon drei von bis dahin vier möglichen Goldmedaillen gewonnen (Team-Mehrkampf, Einzel-Mehrkampf, Sprung) sowie eine Bronzemedaille am Schwebebalken.

Sieg gegen Biles war keine Option

Nun zeigte die beste Turnerin der Welt, dass sie am Boden noch mal besser ist als an den Geräten. Zum höchsten Schwierigkeitswert von allen Starterinnen (6.9) kam eine überragende Ausführung, die ihr 9.066 Punkte einbrachte. Gold Nummer vier für Biles, und man sah Raisman bei der Medaillenvergabe an, dass sie tatsächlich Silber gewonnen und nicht Gold verloren hatte. Denn der Sieg ist mit Biles als Konkurrentin keine realistische Option.

Außer Raisman und Biles gehören noch Gabrielle Douglas, Madison Kocian und Laurie Hernandez zum US-Team. Bevor der Wettkampf am Boden losging, sagte Hernandez zu Raisman: "Wenn du hier auch Silber gewinnst, bist du die Beste. Simone zählt nicht." Raisman erzählte die Anekdote nach dem Wettkampf in den Katakomben der Olympic Arena in Rio. Sie lachte dabei.

Raisman turnt, seit sie zwei Jahre alt ist, seit mehr als 15 Jahren trainiert sie täglich, schindet sich unter den berühmten Trainern Martha und Bela Karolyi, denen mehrere ehemalige Athletinnen unmenschliche Methoden vorwerfen. Wenn so jemand einen zweiten Platz dermaßen locker nimmt, sagt das viel darüber aus, wie unantastbar die Siegerin ist.

Dieser winzige Sekundenbruchteil

Niemand kann mit der Athletik der 1,45 Meter großen und 47 Kilogramm schweren Biles mithalten. Sie turnt die anspruchsvollsten Figuren und das meist auf den Punkt, mit perfekten Landungen. Dieser winzige Sekundenbruchteil, den man anderen Turnerinnen ansieht, in dem sie sich nach der Landung zu orientieren scheinen und verarbeiten müssen, ob sie irgendwo nachjustieren müssen, das Gewicht verlagern, ein paar Muskeln anspannen, mit dem Arm rudern, all das fällt bei Biles weg. Sie landet - und steht.

Am Dienstag zeigte sie das unter anderem bei dem nach ihr benannten "Biles"-Sprung. Die Hauptbestandteile sind ein doppelter Rückwärtssalto bei voller Körperstreckung und eine halbe Drehung. Die "New York Times" hat Biles' wichtigste Übungen in Schritt-für-Schritt-Grafiken festgehalten. Anders als mit bloßem Auge hat so auch der Laie eine Chance, die einzelnen Elemente zu erkennen.

Die 73 Jahre alte US-Teamkoordinatorin Martha Karolyi trainiert seit mehr als 50 Jahren Turner, darunter zahlreiche Weltmeister und Olympiasieger. Sie und ihr Mann Bela gelten als unnachgiebige Perfektionisten, ohne sie ist der moderne Turnsport nicht vorstellbar. Als Martha Karolyi in Rio im Rahmen des Mehrkampffinals Biles' Bodenübung ansah, sagte sie hinterher nur ein Wort: "Wow."

Biles gilt schon jetzt als die beste Turnerin der Geschichte, in vier Jahren könnte sie ihre Medaillenjagd fortsetzen. Doch den wenigsten Turnerinnen ist es gelungen, über so eine lange Zeit ihre Form zu wahren. Biles will jetzt erst mal studieren, wie es sportlich weitergeht, weiß noch nicht mal ihre Trainerin Aimee Boorman. "Simone will aufs College, ob sie mit dem Turnen weitermacht - keine Ahnung."

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