Das Parlament will den Kantonen mehr Spielraum bei der Ausgestaltung ihrer Wahlsysteme geben. Die Kantone sind jedoch uneins, ob sie diese neue Freiheit überhaupt wollen.
Wer in der Urner Gemeinde Flüelen bei den Landratswahlen 2016 für die SVP stimmte, hätte seinen Wahlzettel ebenso gut in den Papierkorb werfen können. Denn obwohl die Partei in der Gemeinde auf einen Stimmenanteil von fast 20 Prozent kam, ging sie bei der Sitzverteilung leer aus: In Flüelen waren nur drei Sitze zu vergeben, und diese gingen an die FDP und die Linke, welche noch besser abgeschnitten hatten. Weil die CVP das Schicksal der SVP teilte, blieben insgesamt fast 40 Prozent der abgegebenen Stimmen ohne Vertretung im Parlament.
Grosse Parteien bevorzugtDerart kleine Wahlkreise bei Proporzwahlen verletzten die in der Bundesverfassung verankerte Wahlrechtsgleichheit, entschied das Bundesgericht einige Monate später und wies den Kanton Uri an, sein Wahlsystem für die Landratswahlen zu überarbeiten. Es war das vorläufig letzte einer Reihe von Urteilen, in denen das Bundesgericht in den vergangenen Jahren die Wahlsysteme für kantonale Parlamentswahlen für verfassungswidrig erklärt hatte. Der Hauptkritikpunkt: Durch die teilweise sehr kleinen Wahlkreise werden grosse Parteien bevorzugt, und kleine Parteien - beziehungsweise deren Wähler - benachteiligt. Mehrere Kantone, darunter Zürich, Zug, Schwyz und der Aargau, passten in der Folge ihre Wahlsysteme an und führten das sogenannte doppeltproportionale Verfahren ein, auch "doppelter Pukelsheim" genannt: Sitze werden über den ganzen Kanton hinweg an die Parteien verteilt. Anschliessend werden die Sitze den einzelnen Wahlkreisen zugewiesen. So soll sichergestellt werden, dass die Stärkeverhältnisse sowohl kantonal wie auch in den einzelnen Wahlkreisen möglichst genau abgebildet werden.
Die verschärfte Praxis des Bundesgerichts löste jedoch auch Unmut aus, insbesondere bei den grösseren Parteien, die unter den alten Wahlsystemen tendenziell übervertreten waren. Auf Betreiben der CVP und der SVP reichten die Kantone Zug und Uri vor drei Jahren beim eidgenössischen Parlament Standesinitiativen ein, um künftige Eingriffe ins kantonale Wahlrecht zu unterbinden. Das Lobbying der Zentralschweizer Kantone hatte Erfolg: Der Nationalrat stimmte den Vorstössen im März 2016 zu. Die Staatspolitische Kommission des Ständerats erarbeitete daraufhin eine Vorlage zur Änderung der Bundesverfassung. Der neue Absatz hält fest, dass die Kantone "frei in der Ausgestaltung der Verfahren zur Wahl ihrer Behörden" sind. Die Vernehmlassung dazu geht am kommenden Freitag zu Ende.
FDP als KönigsmacherinDie Kantone sind sich allerdings nicht einig darüber, ob sie diese neue Freiheit überhaupt wollen, wie ein Blick auf die bereits vorliegenden Vernehmlassungsantworten zeigt. Zwar stösst die Verfassungsänderung bei einigen betroffenen Kantonen, etwa in der Zentralschweiz, im Wallis oder in Graubünden, auf Anklang. Es solle vor allem "ein Zeichen gesetzt werden, dass das Bundesgericht in Fragen des Wahlrechts die Bundesverfassung zurückhaltend auszulegen hat", schreibt etwa der Kanton Zug in seiner Antwort. Andere, die auf Anweisung aus Lausanne ihr Wahlrecht ändern mussten, etwa die Kantone Zürich und Schaffhausen, halten hingegen nichts davon, die bundesgerichtliche Überprüfung auszuschalten. "Es ist vermutlich der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu verdanken, dass die Bevölkerung und die Parteien sensibilisiert wurden für die legitimen Ansprüche von Minderheiten, die durch die Wahlkreiseinteilung bestraft wurden", schreibt auch der Kanton Freiburg.
Bei der Abstimmung im Nationalrat fanden die Standesinitiativen aus Zug und Uri vor allem bei SVP, CVP und BDP Zustimmung, während SP, Grüne und Grünliberale dagegen waren. Die FDP-Fraktion war gespalten - sie dürfte bei der Abstimmung über die Verfassungsänderung das Zünglein an der Waage spielen. In ihrer Vernehmlassungsantwort sprechen sich die Freisinnigen nun gegen die Verfassungsänderung aus - mit dem Argument, dass der Rechtsgleichheit ein höheres Gewicht zuzumessen sei als der Souveränität der Kantone. Dass eine Standesinitiative zu einer Verfassungsänderung führt, ist zumindest in der jüngeren Vergangenheit noch nie vorgekommen. Offen ist allerdings, wie sich die Neuerung in der Praxis auswirken würde. Sämtliche Kantone, die vom Bundesgericht gerügt wurden, haben ihr Wahlsystem in der Zwischenzeit geändert oder sind (im Fall von Uri) im Begriff, dies zu tun.
Und das Majorzverfahren?Relevant werden könnte der Absatz allenfalls für jene Kantone, die ihr Parlament vollständig (Graubünden, Appenzell Innerrhoden) oder mehrheitlich (Appenzell Ausserrhoden) im Majorzverfahren wählen. Dieses wurde vom Bundesgericht bisher für zulässig befunden, wenn auch nur unter gewissen Umständen. Die Befürchtung der grossen Parteien in diesen Kantonen ist, dass das Bundesgericht seine Praxis dereinst verschärfen und das Mehrheitssystem wegen seiner verzerrenden Wirkung zulasten von kleineren Parteien verbieten könnte.
Mehr zum Thema