Der Mediziner Martin Oswald hat für sich Wege gefunden, sich von keinem Möbel verbiegen zu lassen.
(erschienen am 23.10.2021)
Die Art, wie ein Arzt sein
Wartezimmer eingerichtet hat, ist auch eine erste Botschaft an die Patienten.
Die Botschaft im Wartezimmer von Martin Oswald ist ziemlich deutlich. Keine Stühle.
Zumindest fast keine, nur in einer Ecke steht einsam ein Thonetstuhl. Eine
Notsitzgelegenheit für ältere Menschen, erklärt Dr. Oswald.
„Der Mensch muss ja schauen, dass er den Stuhl meidet. Er muss den Stuhl als
Feind erkennen!“, ruft der Arzt und klingt dabei deutlich begeistert von seiner
These. Oswald, tiefgebräuntes Gesicht, tiefenentspannte
Stimmung, führt in einer kurzen weißen Hose an einem Ruhetag durch seine
Ordination. In einem Jugendstilhaus in Augsburg hat sich der Chirurg eine Welt
nach seinem Willen geformt – eine Welt ohne Stühle.
In seiner schwäbischen Heimat gilt Oswald als
Spezialist für Krampfadern und Hämorrhoiden. Bei Forschungsreisen nach
Äthiopien in den Neunzigerjahren stellte der Mediziner fest, dass Menschen aus
Naturvölkern keine Krampfadern hatten – weil diese Menschen ohne Stühle lebten,
lautete seine Schlussfolgerung. Auch andere Krankheiten wie Thrombosen,
Verstopfungen, Verhärtungen im Schließmuskel bis zu Dickdarmkrebs führt Oswald darauf
zurück, dass wir in Europa unsere Tage zu weiten Teilen auf Stühlen, Sesseln
und Sofas verbringen.
Kein Sitzenbleiber
„Die natürliche Haltung des Menschen gerät durch
das Sitzen auf dem Stuhl ins Schiefe. Wir empfinden den Stuhl als bequemes
Hilfsmittel, und das ist genau der Fehler“, sagt Oswald. Während
des Gesprächs wechselt der 69-Jährige immer wieder die Position, indem er
abwechselnd auf dem Holzboden seiner Ordination sitzt, hockt und kniet. Das
sieht eigenartig aus, er wirkt aber ziemlich fröhlich dabei.
Seit rund 22 Jahren sitzt Oswald nun
nicht mehr auf dem Stuhl – zumindest nicht auf jene Weise wie alle anderen
Europäer. Im Behandlungszimmer steht sein Computer auf einem niedrigen Tisch,
die Tastatur liegt auf einem winzigen Hocker. Wer Stühle meidet, lebt und
arbeitet weiter unten. Wenn Oswald im Restaurant isst, lässt er sich im
Schneidersitz auf dem Stuhl nieder. Muss er mit dem Zug reisen, kauert er sich
zwischen den Abteilen auf den Boden. Beim Abendessen mit seiner Lebensgefährtin
und seinen zwei Kindern muss der Doktor im Knien speisen, um mit der Frau, die
auf einer Eckbank sitzt, auf Augenhöhe zu kommen. Selbst auf dem Klo
macht Oswald keine Kompromisse, dort hockt er mit den
Fußsohlen auf der Klobrille, um sich naturgemäß zu erleichtern.
Langes Sitzen ist tatsächlich alles andere als
gesund, das gilt mittlerweile als medizinisches Gemeinwissen. Australische
Ärzte rieten im Jahr 2015 im European Heart Journal: Wer steht, statt zu
sitzen, verbessere seine Herzgesundheit und seine Blutwerte. Auch Diabetes,
Schlaganfälle und Krebserkrankungen führten die Forscher auf das stundenlange
Sitzen zurück. Deutsche Medien titelten damals: „Sitzen ist das neue Rauchen.“
Die Stuhlvermeidung
Trotzdem vermeidet wohl niemand in Deutschland
und Österreich so konsequent Stühle wie Martin Oswald.
Deutschland hat rund 600.000 Vereine, auch solche für die obskursten
Leidenschaften. Aber einen Verein für Stuhlvermeidung gibt es nicht. Man findet
von Oswald zwar ein paar Youtube-Videos, jedoch keine mit
Anleitungen zum gesunden Sitzen. „Ich will kein Guru sein“, sagt er. Die
Patienten sollen laut seinem Ansatz selbst draufkommen, dass das Stuhlsitzen
sie quäle, so wie’s bei ihm gewesen sei. „Ich bin der Einzige, der so lebt und
sich so umgestellt hat“, sagt Oswald zufrieden. „Ich bin der Weltmeister in meinem
Fach.“ Dass er immer weitermacht, erklärt er mit seinem „medizinischen Wissen“
und einer gewissen „schwäbischen Sturheit“.
Im Jahr 2016 bestätigte eine großangelegte
Studie der Norwegian School of Sport Sciences und der Universität Cambridge
noch einmal, was der Doktor aus Augsburg schon lange wusste. Das Sitzen
verkürzt unser Leben. Professor Ulf Ekelund und sein Team hatten dafür 16
Studien mit Daten von insgesamt mehr als einer Million Menschen zusammengefasst.
Die Schlussfolgerung, die Ekelund zog, gefiel Oswald dann
aber weniger: Wer 60 bis 75 Minuten täglich Sport treibe wie Joggen oder
Radfahren, der würde die ungesunde Wirkung von acht Stunden täglichen Sitzens
ausgleichen.
Besuch in der Ordination von Dr. Thomas
Filipitsch in Wien-Alsergrund. Er ist wie Martin Oswald ein
erfahrener Chirurg und hat ein ähnliches Fachgebiet – Venenprobleme,
Hämorrhoiden, Darmerkrankungen. Filipitsch kommt auch zu ähnlichen Urteilen.
„Kaum ein Organ wird durch das Sitzen nicht geschädigt“, sagt er. „Jede Minute,
die man weniger sitzt, ist eine gewonnene Minute.“ Während der Arzt das sagt,
sitzt er jedoch auf einem Bürostuhl. „Oft geht es nicht anders, das ist das
Problem“, sagt der 58-Jährige. Er versuche abends mit Yoga und tagsüber durch
das Sitzen auf einem sogenannten Sattelstuhl gegenzusteuern.
Oswald legt
die Stirn in Falten, wenn er das hört. Er schüttelt den Kopf. „Die
Erdanziehungskraft“, holt er aus, „wirkt jeden Tag an jedem Ort auf jedes Wesen
der Erde.“ Deshalb sei das mit dem Sitzen so bedeutsam, es sei der tägliche
Kampf des Menschen um seine Haltung. Oswald schließt die Augen, er ringt nach den richtigen
Worten, das sei ihm jetzt wichtig. „Die Medizin kommt ja erst nach der Natur“,
sagt er. „Die Natur ist das Richtige, das Optimum. Es gibt keinen Kompromiss in
der Natur.“
Wer sitzt, der schädigt sich
Könnte ein besonders ausgeklügelter,
ergonomischer Stuhl helfen? Oswald winkt energisch ab. „Je bequemer ein Stuhl ist“,
sagt er, „desto schlechter ist er für den Menschen.“ Daher könne er auch
niemandem raten, einfach weniger Stunden auf dem Stuhl zu verbringen. Raus aus
dem Stuhl sei die einzige Lösung. Das Stuhlsitzen sei ein „mechanisches Gift“,
das unsere Haltungsmuskulatur samt Bindegewebe degenerieren lasse. „Knapp
daneben ist immer noch falsch“, ruft der Chirurg, da gibt es für ihn keine
halben Sachen.
Vor einem Jahr befragte der deutsche
Fernsehsender 3sat andere Ärzte zu Oswalds Thesen. Es gebe zwar „einen Zusammenhang
zwischen dem Sitzen und vielen Krankheiten“, aber die Ursachen seien
vielfältiger, entgegnete der renommierte Gefäßchirurg Ulrich Radtke seinem
Augsburger Kollegen. Oswald zeigt sich davon heute wenig beeindruckt. Radtke
sei wie viele Ärzte noch „in einem anderen Stadium der Erkenntnis“, sagt er.
Wenn schon die Wissenschaft träge bleibt, will
wenigstens er selbst so natürlich und geschmeidig wie möglich leben. In seinem
alten Porsche, den Oswald „ein Relikt aus einem früheren Leben“ nennt, hat
er die Lehne maximal nach hinten geklappt, unterm Fahrersitz hat er sich ein
Holzbrett hineinzimmern lassen. So lenkt er seinen Porsche durch Augsburg, mit
geradem Rücken, steif wie ein Pinsel. Wenn er das Auto verlässt, läuft er
barfuß, so wie er es immer tut, zu jeder Jahreszeit. Wie den Stuhl
versteht Oswald auch den Schuh als unnatürliches Werkzeug, ohne
das der Mensch besser dran sei.
Man fragt sich, ob so ein Alltag nicht furchtbar
anstrengend ist. Und ob die Energie, die Oswald fürs ständige Hocken,
Stehen, Knien und Kauern einsetzen muss, nicht anderswo fehlt. Oswald muss
lachen, ja, da habe er schon viel drüber nachgedacht. Der Sitzende denkt anders
als der Stehende, sagt er, das hätten schon die alten Römer gewusst.
Der Mediziner nennt als Beispiel die Schule:
„Einer, der auf dem Stuhl sitzt und sich auf etwas Theoretisches wie Lesen,
Schreiben und Rechnen konzentriert, der schreibt oder rechnet wahrscheinlich
besser als einer, der dabei auch stehen muss.“ Also lernt und denkt der
Sitzende besser? Oswald lächelt verschmitzt, er wolle ehrlich sein.
„Leider könnte ich mir das vorstellen“, antwortet er leise. Aber das sei ja
nicht schlimm, fügt er gleich hinzu: „Der Mensch ist ja für die Natur
geschaffen, und in der Natur gibt es kein Rechnen und Schreiben.“