Vergangenes Jahr sind in Österreich 31 Frauen ermordet worden, im Schnitt also mehr als zwei Frauen pro Monat – die allermeisten von ihren (Ex-)Partnern. Die häusliche Gewalt im Land hat im Zuge der Coronapandemie und den damit einhergehenden Ausgangsbeschränkungen noch zugenommen. Krisenberatungshotlines verzeichneten so viele Anrufe wie noch nie. Fakt ist: Österreich hat ein Gewalt-Problem.
Wieso kommt es zu männlicher Gewalt? Und was kann man dagegen tun? Diese und weitere Fragen haben wir Alexander Haydn von der Wiener Männerberatung gestellt. Die Einrichtung bietet neben Krisenberatung zu Themen aller Art (Job, Familie, Beziehung, Trennung, Vaterschaft, Sucht, Gewalt, etc.) und Vermittlung an entsprechende Hilfsstellen auch Anti-Gewalt-Trainings im Gruppen- oder Einzelsetting sowie Psychotherapie an.
WIENERIN: Warum werden Männer häufiger gewalttätig als Frauen? Beziehungsweise: Ist das überhaupt so?
Alexander Haydn: Dass Männer gewalttätiger sind, schlägt sich in den Zahlen nieder. Man kann das zum Beispiel an den Betretungsverboten ablesen, die jährlich verhängt werden. Von den tausenden Verboten, die etwa allein in Wien ausgesprochen werden, betreffen rund 90 Prozent Männer. Die anderen 10 Prozent sind Frauen sowie jugendliche Mädchen und Burschen, die beispielsweise ihre Eltern attackiert haben. So sieht es im Hellfeld aus.
Das Dunkelfeld spricht jedoch möglicherweise eine andere Sprache. Es gibt Dunkelfelduntersuchungen aus Deutschland, die davon ausgehen, dass es annähernde Parität zwischen männlicher und weiblicher Gewalt in Beziehungen gibt. Es kann durchaus sein, dass da Vieles nicht nach außen dringt. Das ist das große Problem an Gewalt in Beziehungen. Dass das meiste hinter Mauern passiert und niemand zuschauen kann. Wenn sich zwei auf der Straße prügeln, ist das potenziell gefährlich, aber es besteht eine große Chance, dass jemand einschreitet und die Situation beendet oder die Polizei ruft. Im privaten Raum, in der Familie, gibt es das meist nicht.
Was allerdings einen großen Unterschied macht, ist der Impact. Man muss sich das nur kurz vorstellen: Sie sind vielleicht 1,70 Meter groß, haben 50 kg und dann steht ein 1,90 Meter Mann gegenüber mit 120 kg. Schlagen Sie ihn mit der Faust, steht der auf und schaut Sie an. Umgekehrt: Er gibt Ihnen eine Ohrfeige und Sie knallen zwei Meter gegen die Wand. Das ist der Unterschied in der Auswirkung und einer der Gründe, weshalb es am Ende leider immer wieder einen Femizid gibt, also eine tote Frau.
Welchen Einfluss hat das typische männliche Rollenbild in der Gesellschaft auf die Gewaltausübung von Männern?
Einen großen. Männer sind nach ihrem Stereotyp aktiv, nach außen agierend, explodierend, vulkanartig. Frauen sind im Gegenteil dazu in ihrer Stereotypenzuschreibung zurückhaltend, passiv, nach innen fokussiert. Wenn es Druck, Anspannung, Aggression gibt, ist sie meist nach innen gerichtet: selbstschädigendes Verhalten, depressive Stimmungslagen – das ist so die stereotype Zuschreibung der Frauen. Und das ist gleichzeitig die möglicherweise valideste Erklärung, warum mehr Männer gewalttätig sind und warum vor allem dieser Impact so hoch ist.
Die eine simple Erklärung für männliche Gewalt gibt es allerdingsnicht. Es gibt sicher 30 verschiedene Theorien zu männlicher Gewalt, die alle valide wissenschaftliche Arbeiten sind und alle eine bestimmte Gruppe treffen, aber sind nicht für die Gesamtheit gültig. Ich weiß, dass Medien und unsere Gesellschaft gerne eine einfache Erklärung hätten. 'Wenn dieses passiert, dann passiert jenes'. Dass man ein schönes kleines Problemchen hat und die Bedienungsanleitung, wie man es lösen kann. Jedoch ist Gewalt in der Familie ein multiperspektives Problem, das auf vielen verschiedenen Ebenen abläuft. Genau damit beschäftigen wir uns auch bei der Männerberatung und in den Anti-Gewalt-Trainings.
Wie genau helfen Sie Männern, ihre Gewalt in den Griff zu bekommen?
Wir versuchen, die Männer dabei zu unterstützen, die Kontrolle über ihre Impulse zurückzugewinnen bzw. ihnen Wege zu zeigen, wie das besser geht. Unser Anti-Gewalt-Training ist eine Verhaltensänderungsmaßnahme. Ein verhaltenstherapeutisch orientiertes, manualhaftes Vorgehen in Form eines 32-teiligen Modulprogrammes.
Danach wäre es sinnvoll, wenn sich die Männer noch in Form einer Therapie der persönlichen Aufarbeitung ihrer Geschichte und Auseinandersetzung mit ihrer Verantwortung und ihren Handlungen widmen – das wäre der Idealfall. Das tun allerdings nicht alle.
Wie kommen die Männer zu Ihnen?
Die wenigsten kommen freiwillig. Diejenigen, die in einem Erstgespräch zu mir gekommen sind und gesagt haben, "Irgendwie habe ich das Gefühl, ich muss an meinen Impulsen arbeiten, ich explodiere schnell ...", kann ich an einer Hand abzählen.
Männer kommen grundsätzlich eher eingeschränkt freiwillig zu uns, das heißt, entweder die Partnerin schickt sie oder Freunde und Verwandte raten dazu. Das sind in etwa 40 Prozent der Männer.
Rund die Hälfte der restlichen 60 Prozent wird über Gerichte zugewiesen. Das bedeutet, es gibt ein Delikt, woraufhin der Richter den Verurteilten vor die Wahl stellen kann, ob er seine Haftstrafe absitzen möchte oder für einen bestimmten Zeitraum ein Anti-Gewalt-Training absolvieren will.
Die dritte große Zuweisungsschiene bei uns erfolgt über die Kinder- und Jugendhilfe. Wann immer ein Betretungsverbot von der Polizei ausgesprochen wird und Kinder im Haushalt gemeldet sind oder in der Situation angetroffen werden, wird die Kinder- und Jugendhilfe informiert. Im sogenannten Abklärungsverfahren kann eine Vereinbarung getroffen werden, wonach ein Elternteil zur Absolvierung eines Anti-Gewalt-Trainings verpflichtet wird. Die Drohung lautet dann nicht, "... sonst gehen Sie ins Gefängnis", sondern " ... sonst nehmen wir Ihnen die Kinder ab und bringen sie in ein Krisenzentrum".
Was passiert im Erstgespräch?
Wenn Männer zu uns kommen, gibt es ein oder mehrere Erst- oder Informationsgespräche, um sich mit dem Fall vertraut zu machen. Dann erfolgt eine Risikoabschätzung, um herauszufinden, wie wahrscheinlich es ist, dass es in naher Zukunft erneut zu Gewalt kommt. Danach wird der Mann umfassend klinisch diagnostisch getestet, sprich: Persönlichkeitstest, Tests auf Suchtverhalten, Gewaltverhalten, soziale Umgebung, Bildungsgrad. Daraufhin legen wir fest, ob er einer Trainingsgruppe zugeordnet wird, im Einzeltraining betreut wird oder wir ihn abweisen.
Wann wird jemand abgewiesen?
Der vordringlichste Grund ist fehlende Verantwortungsübernahme. Also ein "Justizopfer". Jemand, der "zu Unrecht verurteilt" wurde. So jemand sagt etwa "Ich bin gar nicht im Haus gewesen" oder "Ich kenn die Frau gar nicht". Das hat dann keinen Sinn.
Der zweite Punkt ist akutes Suchtverhalten. Männer, die etwa ein Alkoholproblem haben und sich schwertun, halbwegs nüchtern zu einem Gespräch zu kommen, können wir nicht betreuen. Die verweisen wir dann eindringlich an eine stationäre Einrichtung, um sich ihrem Suchtverhalten zu widmen. Wenn sie entwöhnt oder in einem Therapieprogramm sind, können sie nochmal kommen und bekommen ein Anti-Gewalt-Training.
Die dritte Variante sind Menschen mit fundierter Persönlichkeitsstörung. Insbesondere "potentiell gefährliche" Persönlichkeitsstörungen, antisoziale, narzisstische oder auch Borderline-Persönlichkeitsstörung. Diese Personen sind in der Regel nicht gruppenfähig. Wir bieten ihnen daher an, dass sie im Einzelsetting betreut werden oder verweisen sie an andere therapeutische Einrichtungen.
Wie kann man sich so ein Gruppentraining vorstellen?
In einer Gruppensitzung sind meist zwischen sechs und zwölf Teilnehmer und zwei Gruppenleiter, jeweils ein Mann und eine Frau. Das hat den Hintergrund, dass wir Module haben, wo Männer ganz konkret mit ihrem Gewaltverhalten konfrontiert werden. Männer sagen uns: "Es war nur ein kleiner Schubser". Ich bitte sie dann, aufzustehen und sich neben meine Kollegin zu stellen. Da braucht man oft gar keine Worte, um begreiflich zu machen, was da vom Impact her passiert.
Einige Männer agieren mit männlichen Gruppenleitern gerne mal in einer gewissen Kumpelhaftigkeit: "Sie wissen eh wie das ist …". Auch in vielen anderen Bereichen kann es sehr hilfreich sein, die weibliche Perspektive einzubringen. Das sehe ich als wichtigen Faktor des Trainings.
Wie ist das Training aufgebaut?
Es gibt vier große Blöcke: Im ersten geht es um Verantwortungsübernahme. Danach folgt Anger Management bzw. Impulskontrolle. Da geht es darum, den Männern Zugang zu ihren Emotionen zu ermöglichen und Worte für ihre Gefühle zu finden.
Der dritte Block beschäftigt sich mit Kommunikation auf einer sehr basalen Ebene. Themen sind dabei gewaltfreie Kommunikation, Sender/Empfänger sowie die Ebenen, auf denen Botschaften übermittelt werden können. Im vierten Block geht es um die Biografie der einzelnen Teilnehmer. Was ist in meinem Leben passiert?
Wir haben in den letzten Jahren noch eine fünfte Ebene mit eingebaut, das Achtsamkeitstraining, welches darauf ausgerichtet ist, Spannung zu reduzieren, denn jede Art von Entspannung wirkt Gewalt entgegen.
Was ist ein konkreter Tipp, um eine angespannte Situation zu entschärfen?
Die Time Out-Strategie ist die einzig nachhaltig sinnvolle Methode, um akutes Gewaltverhalten zu unterbinden. Wir zeigen den Männern, dass sie Frühwarnsignale haben, bevor ihre Impulskontrolle versagt. Auf der körperlichen Ebene in Form von Muskelkrampf, Herzrasen oder Stimmversagen. Auf der emotionalen Ebene in Form von Wut, Zorn, Ärger, Trauer, Verzweiflung oder Machtlosigkeit. Oder auch in Form von sogenannten Wenn-Dann Schleifen: "Wenn sie das nochmal sagt, dann ...". Diese Schleifen gehen im Kopf herum und irgendwann setzt die Impulskontrolle aus und die Männer reagieren. Wenn das erreicht wird, gibt es innerlich kaum mehr Möglichkeiten, das zu unterbrechen.
Wir üben mit den Männern, diese Grenze zu erkennen und in den letzten 20 Sekunden, die sie noch Zeit haben, bevor es eskaliert, das Einzige zu tun, was man tun kann, nämlich aus der Situation flüchten. Denn erst, wenn wieder ein gewisses Entspannungsniveau erreicht ist, setzt das rationale Denken wieder ein.
Was beschreiben Männer, wie sie solche Situationen erleben? Was geht ihnen kurz nach einer Tat durch den Kopf?
Viele sind erschrocken und entsetzt über das, was sie getan haben. Da ist die Partnerin und ihr rinnt das Blut bei der Lippe runter. Sie hat eine Schwellung am Auge. Daraufhin verfallen viele in eine Art Entschuldigungs- und Unterwürfigkeitsphase: "Nie wieder wird das passieren", "Ich verspreche es bei allem, was mir heilig ist". Natürlich ist das meist nicht von Dauer.
Kommt es vor, dass Teilnehmer in den Trainings Ihnen gegenüber aggressiv werden?
Es kommt schon vor, dass jemand, der Impulskontrollprobleme hat, relativ schnell aufzustacheln ist, indem wir ihn mit Dingen konfrontieren, die er nicht hören will. Das kann schon passieren, aber das ist sozusagen der Glücksfall. Also für mich als Therapeut ist das natürlich super, weil man damit gut arbeiten kann.
Was muss in Sachen Gewaltschutz noch passieren?
Auch ich habe die letzten Jahre immer wieder Kritik an unserem System geübt, aber tatsächlich gibt es doch einige Erfolge, die zeigen, dass etwas vorangeht. Das erste Gewaltschutzgesetz 1997 war ein Meilenstein in der Gewaltprävention und ist in vielen Ländern als Basis genommen worden, um ähnliche Gesetze zu etablieren.
Ich glaube, die Politik hat mittlerweile begriffen, dass Täterarbeit sinnvoll und notwendig ist. Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass die Opfer von Gewalt in der Familie ausreichend betreut werden müssen. Leider gibt es da immer noch eine gewisse Konkurrenzsituation. Wenn Mittel in die Täterarbeit fließen, wird es vom Opferschutz abgezogen – das darf nicht sein.
Insgesamt braucht es auf jeden Fall noch mehr Strukturierung. Im Moment haben wir einen Fleckerlteppich an Instrumenten – diese müssen sinnvoll koordiniert und zusammengeführt werden. Auch braucht es Finanzierung für Anti-Gewalt-Trainings, da wir unmittelbare Gewalt nur verhindern, indem wir Leute zwanghaft dazu verpflichten, ein AGT zu absolvieren. Wenn wir so etwas privat finanzieren lassen, geht das auf Kosten des Familienbudgets, was möglicherweise wieder Spannungen erzeugt und vielleicht wieder ein Risikofaktor für Gewalt ist.
Ich glaube, wir bewegen uns aber schon in eine gute Richtung, es hat sich schon viel verändert.
Wohin ihr euch wenden könnt:
Männerinfo: Telefonische Krisenberatung rund um die Uhr mit erfahrenen Männerberatern aus ganz Österreich. Bietet bei Bedarf auch gedolmetschte Beratung an. Auch Angehörige können hier Rat suchen.
Die Telefonnummer lautet 0800 400 777.
Männerberatung Wien: Die Männerberatung Wien bietet psychologische, psychotherapeutische, soziale und juristische Hilfe, sowie ein breitgefächertes Informations- und Fortbildungsangebot zu allen möglichen Themen, die Männer heutzutage beschäftigen.
Unter 01 603 28 28 könnt ihr einen Beratungstermin ausmachen.
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