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"Zum ersten Mal hat sich jemand für mich interessiert"

800 junge Menschen aus Deutschland sind als Dschihadisten in den Krieg gezogen. Viele wurden über Propagandavideos rekrutiert. Ein Projekt in Aachen hält dagegen.


Paul kann mehr sein als ein schlechter Schüler aus der Plattenbausiedlung, dessen Mutter nicht mehr vor die Tür geht - sagen seine neuen Freunde. Sie haben ihm zugehört und ihn in ihre Gemeinschaft aufgenommen. "Es war das erste Mal, dass sich jemand wirklich für mich interessiert hat", sagt Paul. Jetzt will er zeigen, dass er die Aufmerksamkeit verdient hat und wedelt mit zwei Flugtickets nach Syrien.


"Kommt jemand mit?", ruft er energisch und tritt von der Bühne in den Zuschauerraum. Paul ist eine Figur des Theaterstücks "Jungfrau ohne Paradies", das an diesem Februarabend im D-Hof, einer offenen Kinder- und Jugendeinrichtung in Aachen, aufgeführt wird. Es handelt davon, wie sich der Junge von extremistischen Islamisten begeistern lässt und in den Sog ihrer Propaganda gerät - so weit, dass er nach Syrien in den "heiligen Krieg" ziehen will.


Das interaktive Theaterstück soll beispielhaft die Geschichte der 800 jungen Menschen aus Deutschland erzählen, die laut Bundeskriminalamt bis Ende 2016 als Dschihadisten nach Syrien oder in den Irak gereist sind. 90 Prozent von ihnen sind Jungs und junge Männer. Immer wieder stellen die drei Schauspieler Fragen an das Publikum.


Ob jemand schon mal Videos im Netz gesehen hat, auf denen jemand enthauptet wurde? Klar. "Kopf ab, und das Blut fließt", antwortet die 19-jährige Lawin. Die Stimmung ist plötzlich gedrückt. "Du guckst ein, zwei, drei Videos, dann fühlst du nichts mehr."


Die Internetpropaganda der extremistischen Islamisten funktioniert wie die einer guten Werbeagentur, sagt Nils Böckler, Sozialwissenschaftler in Darmstadt, der zu Online-Radikalisierung forscht. Schritt eins, um Jugendliche zu ködern, sind meistens Videos von Salafisten, die eine politische Botschaft haben. In den Videos sind Männer mit Bart, weißer Häckelmütze und schwarzem, knöchelfreien Gewand zu sehen, die junge Menschen auf der Straße ansprechen. Wie Streetworker fragen sie, wo die Jugendlichen herkommen und an was sie glauben. Es ergeben sich Gespräche über den Unterschied zwischen Gläubigen und Ungläubigen, die Unzufriedenheit mit der aktuellen Lebenssituation und das Gefühl, nicht dazuzugehören.


Andere Videos sind Erfahrungsberichte von Konvertierten. Die Botschaft: Bei uns spielt es keine Rolle, welchen gesellschaftlichen Status, welche Kultur oder Religion du hast - wenn du bereit bist, nach der "wahren Religion" zu leben. "Da beginnt die Abgrenzung von demokratischer Gesellschaft", sagt Böckler.


Vor allem Jugendliche, die kein gefestigtes Normen- und Wertegefüge oder persönliche Krisen erlebt haben, ließen sich demnach eher für radikales Gedankengut begeistern. In der Propaganda werde vermittelt, dass sie sozial benachteiligt sind und von der deutschen Gesellschaft sowieso ausgegrenzt und nicht akzeptiert werden. Die Ideologie liefert damit eine Erklärung, einen Schuldigen und einen Sinn, wenn das Leben perspektivlos erscheint.


Nach dem Motto "Das könnte dich auch interessieren" bauen im nächsten Schritt Videos von Dschihadisten auf die inszenierten Videos der politischen Salafisten auf. Während die Salafisten noch dazu motivieren, die Ideologie nach außen zu tragen, verlangen die Dschihadisten dann, den eigenen Glauben mit Gewalt zu verteidigen. Auch wenn das heißt zu sterben. "Die Gruppen und ihre Inhalte geben sich online die Klinke in die Hand", sagt Böckler. Da seien Enthauptungsvideos dann schnell unter den Vorschlägen der Algorithmen.


Damit die Besucherinnen und Besucher der Einrichtung D-Hof in Aachen nicht in den Sog von Islamisten geraten, sondern für deren Taktiken sensibilisiert werden, hat die Leiterin Sandra Jansen das Stück hergeholt. Sie weiß, dass die Kinder und Jugendlichen in ihrem Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt bekannt ist, eine wichtige Zielgruppe von Extremisten sind: "Das Thema ist für uns nicht weit weg", sagt Jansen. "Hier sucht schon manch einer nach einfachen Antworten."


Eine Erzieherin berichtet von zwei muslimischen Mädchen, die sich vorstellen konnten, warum andere in den "heiligen Krieg" ziehen. "Sie waren im Konflikt mit ihrer Religion und ihrem sozialen Umfeld", sagt Arta Shuti. "Was den Mädchen aber tatsächlich fehlte, war Selbstbewusstsein." Das Angebot der extremistischen Islamisten, ihnen Anerkennung zu schenken und ihre Fehler zu verzeihen, sahen sie als einfache Lösung und gleichzeitig Rebellion gegen ihr soziales Umfeld.


Was kann man tun, um Teenager vor extremistischen Gedanken und Verhalten zu schützen?

Experten sagen: Vor allem das Bedürfnis nach Zugehörigkeit sollte gestillt werden. Und das Gefühl gefestigt werden, dass es Perspektiven gibt für die Zukunft. Dazu zählt: Verantwortung übernehmen, Erfolg haben, Wertschätzung erfahren, Gemeinschaft erleben und Bezugspersonen, die zuhören - ob beim Boxen, Graffiti sprühen oder Theaterspielen in Projekten an Schulen oder offenen Kinder- und Jugendeinrichtungen. "Es gibt aber noch zu wenig leicht zugängliche und langfristig finanzierte Angebote", sagt Marianne Genenger-Stricker, Professorin für soziale Arbeit.


Am Ende des Theaterstücks im D-Hof zerreißen die Schauspieler die Flugtickets nach Syrien. Auf die Frage, ob jemand mit ihm geflogen wäre, hat sich keiner im Publikum gemeldet.

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