Zum Surfen muss man nicht weit reisen, nicht mal ans Meer: Seit Jahrzehnten reiten Menschen auf einem Kanal mitten in München die Eisbachwelle. Mittlerweile sind es so viele, dass manche die weniger besuchten Wintermonate bevorzugen. Was macht der Andrang mit der Welle, und was macht die Welle mit den Menschen?
Wie überkochendes Nudelwasser baut sich die Welle auf. Hinter ihr brodelt weißer Schaum. Doch im Gegensatz zu kochendem Wasser ist der Münchner Eisbach: eisig. Erst recht im Winter. Wen es genau interessiert an diesem Wintermontag: 5,6 Grad Celsius, laut dem Gewässerkundlichen Dienst Bayern fast genauso kalt wie die Luft. Neben der Welle düsen auf einer sechsspurigen Straße Autos und Busse. Das Tosen des Wassers überrauscht ihre Motoren. Hinter ihr erstreckt sich der Englische Garten, der Marienplatz ist nur einen kurzen Spaziergang entfernt. Doch die Großstadt, sie könnte nicht ferner sein.
Laura Hausteins Kopf ist in schwarzes Gummi gequetscht, ebenso ihr Körper. Der Neoprenanzug lässt einzig ihr Gesicht frei. Es ist gerötet. Kalt? Ist ihr nicht, sagt die 25-Jährige. „Es ist okay." Sie sitzt auf einer Stufe am Ufer, das Board auf die Knie gebettet, ihre Hände in dicken, schwarzen Neoprenhandschuhen. Pause. Sie schaut aufs brodelnde Wasser, wartet darauf, dass sie an die Reihe kommt. Nur eine Person ist vor ihr, eine andere balanciert auf der Welle. Auf der gegenüberliegenden Uferseite steht Alexander Neumann, 44, sein Board unter den Arm geklemmt. Er lacht, winkt Haustein zu, mal pfeift er. Ungefähr einmal pro Woche surfen die beiden gemeinsam.
Haustein steht nun auf. Sie umfasst das Board seitlich mit beiden Händen, hält es knapp über den Boden, beugt sich hinab, nimmt Anlauf mit zwei Trippelschritten, dann springt sie, lässt das Board ins Wasser fallen. Mit beiden Füßen landet sie, ein dumpf klingender Aufprall. Sie streckt die Arme zum anderen Ufer aus, rast dorthin und wieder zurück. Hin und her und her und hin und hin und her. Sie duckt sich in den Kurven, um das Board rumzureißen, und geht so tief in die Hocke, dass sie nahezu sitzt, eine halbe Minute geht das so, bis sie ins Wasser springt, sich von der Strömung ziehen lässt und ans Ufer krault.
Neumann sagt später, dass in den Neoprenanzügen alle gleich aussehen. Doch das stimmt so nicht. Spätestens, wenn die Surfer:innen auf der Welle gleiten, erkennt man sie an ihrem Stil: schnell, langsam, hohe Sprünge, Drehungen, prompte Wendungen oder elegantes Balancieren. Neumann, knapp einen Kopf größer als Haustein, muss intensiver pumpen, also mit den Knien federn, um auf der Welle zu bleiben. Seine langen Arme breitet er waagerecht aus. Als würde er fliegen wollen. Manchmal gelingt ihm das auch, wenigstens für einen winzigen Moment. Dann verschwindet er im Strudel.
Wie viele Menschen in München surfen, weiß keiner genau. Die Interessengemeinschaft Surfen in München (IGSM) schätzt, dass es 3000 bis 5000 sind - fest steht: Es werden immer mehr. Allein die Mitgliedszahl des Vereins hat sich seit dem Jahr 2020 von 200 auf 600 verdreifacht. Heute Vormittag surfen am Eisbach acht Personen, in der Hochsaison hingegen Dutzende - einer der Gründe, weshalb Haustein und Neumann am liebsten im Winter kommen. Wer sie begleitet, merkt, dass die Eisbachwelle nicht einfach nur eine Welle ist. Ihr Sog verbindet Münchner:innen und Surfer:innen, in ganz Deutschland und aller Welt, und lässt sie nicht mehr los.
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