Katharina Jeschke sitzt auf einem Sessel am linken Rand des Bildschirms. Auf dem Boden hinter ihr liegen eine gelbe Matte und ein Gymnastikball, daneben steht ein Hocker aus dunklem Holz. Etwas später wird sie noch eine Säuglingspuppe und das Modell eines Beckens hervorholen. Jeschke veranstaltet einen "Crash-Kurs Geburtsvorbereitung". Der Raum füllt sich, fast 350 Personen nehmen an dem Event teil – und zwar virtuell. Seit fünf Jahren teilt die Bremer Hebamme ihr Wissen rund um Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Rückbildung im Internet. Mit ihrem Online-Angebot "Notdiensthebamme" erreicht sie Frauen weit über die Grenzen der Stadt hinaus.
"'Notdiensthebamme' ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, dass ihr Mütter immer dann, wenn ihr es braucht, das Wissen abrufen könnt. Und, dass ihr Männer euch Zeit nehmen könnt, um in Ruhe Vater zu werden", erklärt Jeschke den Zuschauerinnen und Zuschauern die Idee hinter ihrem Angebot. Anderthalb Stunden spricht sie an diesem Montagabend von der Geburtseinleitung und möglichen Schmerzen, erklärt Atemtechniken und Positionen. Selbstsicher und ruhig vermittelt die Hebamme den werdenden Müttern und Vätern die wichtigsten Informationen rund um das Thema Kinderkriegen. Während die Expertin erklärt, ploppen Nachrichten im Chat auf. Die Teilnehmerinnen stellen sich vor, erzählen, in welcher Schwangerschaftswoche sie sind. Und sie richten ihre Fragen an die Hebamme. Jeschke wird sich Zeit nehmen, um jede einzelne zu beantworten – wenn nicht während der Veranstaltung, dann im Nachhinein per E-Mail.
Die 50-Jährige hat mehr als 20 Jahre Berufserfahrung als Geburtshelferin und ist selbst zweifache Mutter. Ihr erstes Kind hat sie als junge Frau bekommen, mit 19 ist sie schwanger geworden – ganz ohne ohne Tipps aus dem Internet. "Ich hatte keine Ahnung, aber ich hatte eine Hebamme." Diese Erfahrung motivierte sie dazu, selbst den Beruf zu ergreifen. 2016 beginnt sie damit, werdende Eltern auf einem Blog zu informieren. "Im Internet findet man viele Infos, die häufig nicht richtig sind oder nur die schlimmsten Szenarien." Ihre virtuelle Präsenz baut Jeschke nach und nach aus, während sie weiterhin auch als Hebamme vor Ort in Bremen unterwegs ist.
KULANZLEISTUNG DER KRANKENKASSEN
Neben kostenfreien Workshops gibt es bezahlte Onlinekurse und individuelle Beratungen auf "Notdiensthebamme". Aber nur mit Glück werden diese auch von der Krankenkasse übernommen. "Es ist eine Kulanzleistung", sagt Jeschke. Versicherte haben einen rechtlichen Anspruch auf Hebammenhilfe – aber bisher nur vor Ort. Katharina Jeschke würde sich wünschen, dass die digitale Beratung offiziell in den Leistungskatalog aufgenommen würde. Doch es sei ein schwieriges Thema, sagt sie. "Online-Angebote sind noch nicht so sehr in der Medizin angekommen."
Dabei könnten von der virtuellen Hebammenhilfe werdende Mütter und Väter profitieren, die auf dem klassischen Weg nicht erreicht würden, erklärt sie. Etwa, weil sie in ihrer Umgebung keine Geburtshelferin finden oder die Präsenzkurse ausgebucht sind. Oder, weil sie sich schonen müssen oder im Krankenhaus liegen und deshalb nicht vor Ort teilnehmen können. Aus ihren eigenen Erfahrungen weiß Jeschke außerdem, dass Väter im Geburtsvorbereitungskurs oft Angst hätten, sich zu blamieren. Im Schutz der eigenen vier Wände könnten die werdenden Eltern viel ungenierter Atmung und Übungen ausprobieren.
Zu jeder Zeit und an jedem Ort können die Nutzerinnen und Nutzer für ein Jahr auf die einzelnen Onlinekurse zugreifen – und so gezielt ihr Wissen vertiefen. "Das Gehirn spielt uns einen Streich, wenn wir aufgeregt sind", sagt Jeschke. Darum müssen die Geburtspositionen der Mütter sitzen – und Väter wissen, wie sie ihre Partnerin bestmöglich unterstützen können. "Sie sollen keine Angst davor haben, Entscheidungen zu treffen." Darum hat Jeschke mehr als 40 Lektionen zur Geburtsvorbereitung aufgenommen, die die werdenden Eltern wiederholen können, um routinierter zu werden. In anderen Kursen erklärt sie alles rund um die Säuglingspflege und das Stillen. "Wir können wir Eltern so sicher bekommen, dass sie ihren Kindern Sicherheit geben können?", fragt Jeschke. Ihre Antwort: über Wissen. Sie möchte, dass Eltern ihre Kinder aktiv und mit guten Entscheidungen auf die Welt bringen. "Mit diesem Antrieb bin ich Hebamme geworden."
Laut Informationen von "Notdiensthebamme" haben 12.000 Personen an den Online-Workshops vergangenen Monat teilgenommen. Nach eigenen Angaben erreicht "Notdiensthebamme" tausende Frauen nicht nur deutschlandweit, sondern auch im Ausland. Etwa in Großbritannien, den USA, Russland und China. Deutsche Frauen, die während ihrer Schwangerschaft im Ausland nicht auf die Unterstützung einer Hebamme verzichten möchten, sagt Jeschke. Auch in Österreich und der Schweiz würden Frauen sich für die virtuelle Hebammenhilfe anmelden.
BUNDESWEITER HEBAMMENMANGEL
Eine dieser Frauen, die Jeschke mit ihrer Arbeit erreicht, ist Anna Broujerdi. Mitte Juni hat sie in Frankfurt am Main ihr Kind zur Welt gebracht. Erst jetzt, im Wochenbett, merke sie, so die 32-Jährige, wie wichtig es sei, eine Hebamme an ihrer Seite zu haben – Hebamme Katharina. "Es ist eine pure Erleichterung, zu Hause mit meinem Kind zu sein und mit Katharina telefonieren zu können." Als sie schwanger wurde, sei ihr zunächst gar nicht bewusst gewesen, wie nützlich diese Unterstützung sein könnte. Als sie im dritten Monat gewesen sei, habe sie sich dann auf die Suche gemacht, in Internetportalen informiert und Krankenkassen abtelefoniert. Doch in Frankfurt und Umgebung habe sie keine Hebamme finden können, die sie hätte betreuen können, sagt sie. "Ich war frustriert und verunsichert."
Durch ihre vermehrten Suchanfragen sei ihr "Notdiensthebamme" auf Facebook angezeigt worden – die Internetseite habe sie neugierig gemacht, das Angebot zu testen. Neben den kostenfreien Workshops habe Broujerdi Onlinekurse gebucht und persönliche Beratungstermine vereinbart. Jeschke habe ihr ein "total sicheres Gefühl" vermittelt, sagt sie. "Ich habe sie bereits weiterempfohlen." Dass Jeschke in Bremen und nicht in Frankfurt ist, spielt für die Neu-Mama keine Rolle. "Wir leben im 21. Jahrhundert. Mit Kamera, Video und Telefon ist fast alles machbar."
In Deutschland mangelt es an Hebammen. Arbeitsbelastung und Versicherungsleistungen sind hoch, die Bezahlung niedrig. Laut aktueller Zahlen des Deutschen Hebammenverbandes wurden 2018 25.000 Hebammen gezählt, darunter viele in Teilzeit. Zeitgleich wurden fast 790.000 Kinder geboren. Einer Umfrage unter 1700 Klinik-Hebammen zufolge betreut die Hälfte der Befragten häufig drei Frauen im Kreißsaal gleichzeitig, weitere zwanzig Prozent kümmern sich um vier oder mehr Schwangere zur selben Zeit. In Bremer Kliniken werden vermehrt Geburtshelferinnen aus dem Ausland angeworben, um offene Stellen zu besetzen. Außerdem hat sich die Gesundheit Nord dazu entschieden, die Geburtshilfe und Gynäkologie aus dem Klinikum Links der Weser abzuziehen und Anfang 2022 ins Klinikum Mitte zu verlegen – unter Protest von Angestellten und Fachverbänden.
Auch für Elisa B. hat sich die Hebammensuche als schwierig herausgestellt. Ihr Kind sei mittlerweile etwas älter als ein Jahr, erzählt die Berlinerin. "Ich habe bestimmt 20 bis 25 Hebammen angefragt und nur eine hat sich zurückgemeldet." Und diese habe keine Geburtsvorbereitungskurse angeboten. Berlett findet einen Wochenendkurs, an dem sie teilnehmen kann – bei sommerlichen Temperaturen und hochschwanger. "Im Nachhinein war ich sehr unzufrieden", sagt sie. Die Vorbereitung habe sie als nicht ausreichend empfunden.
Über Bekannte hört sie von "Notdiensthebamme". Zu diesem Zeitpunkt steckt das Kursangebot selbst noch in den Kinderschuhen, trotzdem findet Berlett die Informationen, die sich braucht. Berlett hat die Angebote der "Notdiensthebamme" selbst bezahlt, ihre Krankenkasse hatte bereits den Geburtsvorbereitungskurs vor Ort übernommen. Sie ist sehr dankbar für Jeschkes Unterstützung. "Der Hebammenmangel in Berlin ist Wahnsinn. Meine Hebamme war nur gestresst und hat sich darüber beschwert, wie wenig Geld sie bekommt."
Jeschke scheint den Müttern nah zu sein. Sie sprechen von ihr wie von einer guten Freundin. Auch, wenn sie währenddessen hunderte oder tausende Kilometer von ihnen entfernt sitzt, zugeschaltet per Kamera oder Telefon. "Es entsteht eine ganz enge Bindung", sagt Jeschke. Ob in Bremen oder Berlin – für viele Frauen ist sie ihre Hebamme Katharina.