"Ich hab Angst", sage ich zu Sandra, als wir durch das knietiefe Amazonaswasser waten. Immer wieder stoße ich auf Widerstand unter Wasser und erschrecke; zum Glück sind es Wurzeln und keine Anacondas oder Caimane (zumindest rede ich mir das ein). Ein paar Meter weiter wird der Tümpel so tief, dass wir schwimmen müssen - gar nicht so leicht, ohne die Gummistiefel an den Füßen zu verlieren. "Nur mit den Vorderbeinen schwimmen!", rufe ich Sandra zu. Mein gut gemeinter Rat geht nach hinten los, denn Sandra geht vor Lachen fast unter. Als ich merke, was ich gesagt hab, lache ich mit, hysterisch. Was um alles in der Welt machen wir hier??!
Zwei Tage zuvor:
Unsere Amazonastour beginnt schon etwas gruselig. Wir fahren mit dem Nachtbus von Quito nach Lago Agrio. Ich schlafe schlecht. Der Bus holpert mehrmals über ungeteerte Straßenstücke und hält anschließend für mehrere Minuten an grell beleuchteten Orten an. Kommentar Sandra: "Wenn in Ecuador mit Organen gehandelt wird, dann hier."
Wir kommen dann aber mit allen Organen in Lago Agrio an - eine Stadt, die ich den Produzenten von "Anaconda" von Herzen als Drehort für den nächsten Eingangstrailer nahelege (grau, regnerisch-windig, unheimlich!!).
Kurze Zeit später steigen wir auf ein Motorboot um. Jetzt wird unser Trip richtig schön, denn die Fahrt zu unserem Camp ist der Wahnsinn, dieses Mal im positiven Sinne. Wir fahren durch dichten Dschungel und halten immer wieder an, um Tiere zu beobachten. Wir sehen Affen, Faultiere, Caimane, Anacondas, Papageien, bunte Schmetterlinge... Unglaublich schön! Abends baden wir in einer breiten Stelle des Flusses. Irgendwie ist allen mulmig zumute, doch David, unser Guide, beruhigt uns. "I`ve got a rule: As long as the water level is higher than 1,5 meters, it is save. If it`s lower, it could get dangerous. I would never swim there."
Am dritten Tag fährt uns unser Fahrer Manuko mit dem Boot zu einer Stelle, von der aus wir eine Wanderung machen wollen. Diese Mal haben wir gleich zwei Guides. Neben David soll Louis, ein Einheimischer, dafür sorgen, dass wir uns nicht verlaufen. "I don`t know this hike, that`s why Louis is coming with us", erklärt David.
Die Wanderung beginnt mit dem üblichen Procedere: Wandern, Tiere beobachten, weiter wandern, noch mehr Tiere beobachten. Nach einer Weile finden wir ein Caiman-Nest. Es liegen Eierschalen und Anacondareste herum. David klärt uns auf: Caimane seien eigentlich total ungefährlich, außer wenn sie Nachwuchs hätten. Dann sei mit den Tieren nicht zu spaßen - wie mit unserem Caiman, der offensichtlich eine Anaconda getötet habe. Ah ja!
Seltsam finde ich auch, dass wir immer wieder stehen bleiben und warten, während Louis vorgeht und den Weg erkundet. Nach einer dieser Erkundungstouren meint Louis, er habe zwar den richtigen Weg gefunden, allerdings seien Teile der Strecke überschwemmt, sodass wir durch das Wasser waten müssten und eventuell nasse Füße bekommen würden. Alle sind wenig begeistert von der Idee. Schließlich stehen wir aber doch an besagter Stelle und es stellt sich heraus, dass wir nicht nur waten, sondern auch schwimmen müssen, um den Tümpel zu durchqueren. Und was ist mit der 1,5-Meter-Regel??! David scheint`s nicht zu kümmern. "We will do this, come on guys", ruft er ungeduldig, schnappt sich unsere Rucksäcke und watet mit ihnen durch den Tümpel. Er scheint völlig durchgedreht zu sein. So kommt es, dass wir mit unseren Vorderbeinen durch den Amazonas schwimmen...
Als unsere Gruppe auf der anderen Seite ankommt - gesund, patschnass und voller Adrenalin - sind alle erleichtert. Wir leeren gerade das Wasser aus den Gummistiefeln, als Louis zwischen zwei Bäumen auftaucht und verkündet, wir müssten wieder umdrehen, da ein paar Meter weiter eine viel breitere Wasserstelle warte, die wir unmöglich durchqueren könnten. Wir schauen uns fassungslos an. Dazu fällt uns nichts mehr ein.
Wir durchschwimmen also zum zweiten Mal - dieses Mal stinksauer - diesen trüben Tümpel, in dem ich immer noch Anacondas vermute... Wieder geht alles gut. Puh.
Um 13.30 Uhr sind wir wieder am Ausgangspunkt unserer Wanderung und warten auf Manuko. David hat ihn beauftragt, uns abzuholen, falls wir zu der Uhrzeit nicht in der Lodge sein sollten.
Doch Manuko kommt nicht. Weder um 13.30, noch um 14 Uhr, noch um 14.30 Uhr.
Es stellt sich heraus, dass wir keine Möglichkeit haben, mit der Lodge Kontakt aufzunehmen. Alle sind besorgt.
14.15 Uhr: David sammelt Brennholz und versucht vergeblich ein Feuer zu entfachen. Wir anderen sitzen auf einem Baumstamm, warten und warten auf Manuko, während wir in unseren nassen Klamotten bibbern und von Moskitos attackiert werden.
Um 15 Uhr beginnen wir Wetten abzuschließen: Wann holt uns Manuko ab? Wann setzt der Überlebensinstinkt ein? Wie lange überleben wir hier?
Gegen 15.30 Uhr sehe ich, dass David jetzt größere Holzstücke zusammenträgt. Louis und er, erklärt er, würden ein Ein-Mann-Floß bauen, mit dem er dann zur Lodge paddeln und Hilfe holen würde. Zum gefühlt 100sten Mal an diesem Tag schauen Sandra und ich uns fassungslos an... und lachen zum zweiten Mal los, von der Absurdität dieser Situation überwältigt...
... als plötzlich ein wohlbekanntes Knattern den Dschungellärm durchbricht: Manukos Motorboot!!! Die Erleichterung ist grenzenlos. Louis taucht plötzlich wieder aus dem Wald auf, David lässt seine Holzsammlung zurück und alle rennen euphorisch zum Boot.
Eine Stunde später sitzt unsere Gruppe wieder in der Lodge, die Mägen gefüllt mit aufgewärmtem Lunch und Caipirinha, den David uns als Entschädigung ausgegeben hat. Jetzt - wo alle sicher am Tisch sitzen - gibt unser Guide zu, dass die Flussdurchquerung tatsächlich sehr gefährlich gewesen sei, er aber keine andere Lösung gesehen habe. Aha, gut zu wissen. Eins steht jedenfalls fest: Unserem Motto "Extreme Traveling" haben wir wieder mal alle Ehre gemacht.
erschienen auf meinem privaten Blog: schreiblisl.wordpress.com