Lisa Kuner

Freie Journalistin, Leipzig

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Artikel

Ausbeutung von „Motoboys" in Brasilien: „Angst, das Virus mit nach Hause zu bringen"

Seit der Pandemie hat sich die Lage von selbstständigen Geringverdienern in Brasilien weiter zugespitzt. Ist das eine neue Form von Ausbeutung?

Brasilien / São Paulo - Egal ob für Essenslieferungen, Dokumente oder Postzustellungen - Edgar Francisco da Silva mit dem Spitznamen „Gringo" rauscht seit 20 Jahren über die Straßen von São Paulo, um Waren und Dokumente auszuliefern. Eigentlich liebt er die Freiheit und Unabhängigkeit, die ihm sein Job gibt. Schon seit Jahren engagiert er sich als Präsident der Vereinigung autonomer App-Lieferanten aus Brasilien, die sich für die Rechte der Fahrer einsetzt. In letzter Zeit macht sich Silva immer häufiger Sorgen, denn so schwierig wie seit Beginn der Pandemie, war die Lage aus seiner Sicht noch nie. „Ich habe sehr viel Angst, mich bei der Arbeit anzustecken", sagt er.

Essen, wichtige Dokumente oder auch den Einkauf aus dem Supermarkt oder der Apotheke - schon vor der Pandemie konnte man sich in Brasilien fast alles nach Hause liefern lassen. Was sich mit Apps wie „Gorilla", bei der man Produkte aus dem Supermarkt bestellen kann, erst langsam am deutschen Markt etabliert, ist in Brasilien schon seit Jahren üblich: Die Anwendung „Rappi" erlaubt es, dem Lieferanten nahezu jeden beliebigen Einkaufszettel zu schicken, der kauft dann in der Apotheke, dem Supermarkt oder der Drogerie die gewünschten Produkte ein und bringt sie gegen eine kleine Liefergebühr nach Hause. Gebracht werden all diese Bestellungen meist nicht von Fahrradkurieren, sondern von sogenannten „Motoboys" also Motoradfahrern. Die meisten von ihnen sind Männer, die teils mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Straßen der brasilianischen Großstädte rasen.

Lieferungen in Brasilien werden seit Ausbruch der Corona-Pandemie systemrelevant

Seit der Pandemie hat sich die Lage noch zugespitzt: Um sich von anderen zu isolieren, greifen die Menschen noch häufiger zum Smartphone, um Essen zu bestellen. Und um auf überfüllte öffentliche Verkehrsmittel zu verzichten, lassen sich noch mehr Menschen mit Taxidiensten wie „Uber" an ihr Ziel bringen. Laut einer Studie des brasilianischen Startups Mobilis haben sich die Bestellungen über Apps in Brasilien im ersten Halbjahr 2020 verdoppelt. Gemeinsam haben alle diese digitalen Bestellplattformen, dass sich die Dienstleistungen mit wenigen Klicks auf dem Handy bestellen lassen, und, dass die Dienstleister selbständig sind. In diesem Fall bedeutet das aber nicht vor allem mehr Freiheit, sondern kein Arbeitsschutz, keine Lohnfortzahlung bei Krankheit und kein Mindestlohn.

Während vor der Pandemie noch viele Stimmen von einer guten Möglichkeit für einen kleinen Zuverdienst sprachen, zeichnet sich nun immer deutlicher ab: App-Lieferanten sind die Leidtragenden in einem ausbeuterischen System: Die Lieferanten sind spätestens seit der Pandemie systemrelevant, indem sie dafür sorgen, dass andere Menschen zu Hause bleiben können. Schon immer war der Lieferantenjob ein gefährlicher - nicht selten verletzen sich die Männer bei Motorradunfällen oder sterben gar an ihren Folgen. Seit Beginn der Pandemie ist die Arbeit noch gefährlicher geworden: Durch die vielen Kontakte am Tag sind die Lieferanten dem Coronavirus nahezu ungeschützt ausgesetzt.

App-Lieferanten in Brasilien sind Coronavirus nahezu schutzlos ausgeliefert - viele tägliche Kontakte

Motoboy da Silva erlebt das am eigenen Leib. „Ich bin sicher, jeder Lieferant kennt einen anderen, der an Covid gestorben ist oder zumindest mit dem Virus ins Krankenhaus kam", erklärt er. Zwar trifft er sowie die meisten anderen Lieferanten Vorsichtsmaßnahmen, trägt Masken und desinfiziert sich regelmäßig die Hände, aber man wisse nie, ob die Kunden genauso vorsichtig sind: „Ich habe immer Angst, das Virus mit nach Hause zu bringen".

Seit dem vergangen Jahr demonstrieren Edgar Franciso da Silva und viele andere Lieferanten für bessere Arbeitsbedingungen:

Extreme Arbeitszeit und wenig Verdienst für App-Lieferanten in Brasilien

Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele App-Lieferanten es in Brasilien gibt. Allein bei der Plattform „iFood", dem brasilianischen Äquivalent zu Lieferando, sind aber nach Angaben des Unternehmens mehr als 160.000 Fahrerinnen und Fahrer registriert. Da Silva beobachtet, wie sich seit Beginn der Pandemie immer mehr Menschen für die Arbeit als Lieferanten auf digitalen Plattformen anmelden. „Wenn sie aufgrund der Pandemie ihren Job verloren haben, denken sie, dass sie so Geld verdienen können", sagt er.

Dabei lässt sich mit der Arbeit als „Motoboy" nur scheinbar schnelles Geld verdienen: Laut einer Studie des brasilianischen Zentrums für Gewerkschaftsforschung und Arbeitsökonomie arbeiten mehr als die Hälfte der Fahrerinnen und Fahrer seit Beginn der Pandemie jeden Tag und im Schnitt mehr als neun Stunden. Trotz dieser enormen Arbeitszeiten verdienen die meisten Fahrer am Ende des Monats kaum weniger als den brasilianischen Mindestlohn und mehr als die Hälfte gab an, dass ihre Einnahmen seit dem Beginn der Pandemie zurückgegangen seien.

Verdienst von App-Kurieren in Brasilien stark schwankend - Rückgang seit Ausbruch der Corona-Pandemie

Was genau die App-Kuriere bei ihren Auslieferungen verdienen, schwankt stark, im Schnitt sind es ungefähr 2500 Reais pro Monat (knapp 400 Euro). Allerdings müssen davon laut da Silva die laufenden Kosten abgezogen werden. Fest stehe, dass seit Anfang der Pandemie die Kosten der Fahrer, zum Beispiel in Benzin, gestiegen sind, während ihre Einnahmen abnahmen. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass es inzwischen oft ein Überangebot an Fahrern gibt und die Lieferanten so zwischen den einzelnen Bestellungen lange Wartezeiten haben.

Verschärfend kommt für die Fahrer außerdem hinzu, dass die digitalen Plattformen keine besonders geduldigen Arbeitgeber sind - verspäten sich die Fahrer beispielsweise aufgrund von Unfällen oder Stau oder lehnen sie Fahrten ab, reagieren die Plattformen oft mit einer vorrübergehenden Sperrung der Fahrer. Für all die Fahrer, die auf die Einnahmen angewiesen sind, ist das eine Katastrophe. „Die Plattformen nutzen die Fahrer einfach aus, ohne Verantwortung zu übernehmen", sagt dazu da Silva.

Ausbildung für Lieferanten: „Viele wissen gar nicht, was sie für ihre Dienstleistung verlangen müssen"

Er glaubt allerdings, dass es lange dauern kann, bis sich von gesetzlicher Seite etwas für die Lieferanten verbessert. Darum engagiert er sich von unten, um die Fahrerinnen und Fahrer besser auszubilden: „Viele der Fahrer wissen gar nicht, was sie für ihre Dienstleistung verlangen müssen", erklärt er. Darum bietet die Vereinigung autonomer App-Lieferanten aus Brasilien Kurse an, in denen die Lieferanten lernen, dass sie nicht nur die Kosten für Benzin einbeziehen müssen, sondern beispielsweise auch für Versicherungen, TÜV und regelmäßige Wartungen am Motorrad. „Es gibt viele, die denken, wenn sie mehr arbeiten, verdienen sie auch mehr, aber eigentlich bezahlen sie dafür zu arbeiten", sagt da Silva.

Besserer Schutz und Priorität bei der Impfung der Lieferanten in Brasilien

Um das nachhaltig zu ändern, brauche es laut da Silva vor allem bessere Gesetze, die die Lieferanten auf den Motorrädern schützen. Auch die App-Unternehmen sollten mehr Verantwortung übernehmen und beispielsweise Sicherheitskleidung, wie Warnwesten mit Reflektoren und Helmen - und nun während der Pandemie auch Masken und Desinfektionsmittel - für ihre Fahrerinnen und Fahrer bereitstellen. Er ist nicht der Einzige, der das so sieht: Seit einigen Wochen gehen in einigen brasilianischen Großstädten darum immer wieder Lieferanten auf die Straße. Neben einer Erhöhung des Kilometerpreises fordern sie auch eine priorisierte Impfung gegen das Coronavirus, um sich und ihre Kundinnen und Kunden zu schützen. (Lisa Kuner)

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