STANDARD: Occupy Wall Street, Arabischer Frühling, Gezi-Park-Protest - es heißt immer wieder, dass Partizipation im Netz zu mehr Demokratie führt. Stimmt das?
Schöllhammer: Neue Medien ermöglichen vor allem eine schnelle Vernetzung. Gerade in den weniger demokratischen Staaten, wie China oder Ägypten, nutzen die Menschen das Netz, um sich zu informieren oder Proteste zu organisieren. Netzwerke wie Facebook und Twitter sind eine gute Quelle der Innovation. Was sie aber schlecht können, ist, die vorhandene Energie in traditionelle politische Kanäle zu übersetzen. Das hat man bei Occupy Wall Street gesehen. Die Gegenbewegung, die konservative Tea Party, hat sich zunächst im Netz, dann aber auch im "wirklichen Leben" engagiert - und Kandidaten in den Kongress gebracht.
STANDARD: Wo enden die Möglichkeiten des Internets?
Schöllhammer: Wichtig wäre eine Kombination aus virtuell und real. Der tägliche politische Prozess ist stark hierarchisch organisiert: Nur auf Netzwerke zu setzen, wie es die Piratenpartei probiert hat, funktioniert nicht. So innovativ das Netz auch ist, ab einem gewissen Zeitpunkt braucht es die Übersetzung in traditionelle Politik.
STANDARD: Die Offenheit als Potenzial birgt damit also auch die Gefahr, dass alles ins Chaos abdriftet?
Schöllhammer: Absolut. Und das ist das große Dilemma. Der Arabische Frühling ist das perfekte Beispiel: Die Regime waren gestürzt, und es begann ein Prozess der Neuorientierung, für die es letztendlich auch einen politischen Plan brauchte. Die Einzigen, die einen solchen hatten, waren die Muslimbrüder und das Militär. Um den Regimewechsel zu erreichen, haben neue Medien eine wichtige Rolle gespielt. Aber man wollte keine permanente Revolution, sondern eine neue Staatsordnung und Stabilität.
STANDARD: Auch der Arabische Frühling fand nicht nur im Netz statt, sondern auch mit Demonstrationen auf der Straße. Braucht man diese traditionelle Form von Protest noch?
Schöllhammer: Ganz ohne physische Präsenz funktioniert es nicht. Die Vision beim Aufkommen des Internets war das "Global Village", in dem wir durch die Vernetzung zu einer globalen Gemeinschaft zusammenwachsen. Das hat sich als komplett falsch erwiesen: Durch das Internet wurde die Identitätsfindung nur weiter verschärft. Auf Facebook kann man mittlerweile aus über 50 verschiedenen Geschlechteridentitäten auswählen. Dass wir immer ähnlicher werden, stimmt nicht. Die Menschen haben ein Bedürfnis nach klaren Identitäten und emotionalen Heimaten.
STANDARD: Österreich hat zunehmend ein Problem mit rassistischen, sexistischen Postings und antidemokratischer Hetze im Internet. Wie kann man damit umgehen?
Schöllhammer: Private Medien sollen regulieren und löschen dürfen. Aber Hass mit Gesetzen zu regulieren ist der falsche Weg. Menschliche Emotionen lassen sich nicht via staatliches Dekret regeln. Das kann die Situation sogar verschlimmern. Wenn jemand Abneigungen hat und einen Blog betreibt, der ihm von staatlicher Seite verboten wird, ist das die schönste Bestätigung, die man ihm geben kann. An seinem Gefühl wird sich nichts ändern.
STANDARD: Wie motiviert sind Hassposter, ihren Unmut tatsächlich in die Realität zu tragen?
Schöllhammer: Vielleicht sind diese Postings sogar ein Ventil. Was sich gezeigt hat, ist, dass Verbote von Bewegungen selten effizient waren. Die Weimarer Republik hatte strenge Gesetze gegen Volksverhetzung. So wurde Hitler 1925 in Bayern mit einem Redeverbot belegt. Das haben die Nazis sofort propagandistisch ausgenutzt und Plakate mit einem Porträt von Hitler aufgehängt, auf denen stand: "Einer allein von 2000 Millionen Menschen der Erde darf in Deutschland nicht reden".
STANDARD: Was kann der Staat oder die Gesellschaft sonst tun?
Schöllhammer: Staatliche Verbote sind der leichteste Weg, aber eigentlich ist die Zivilgesell- schaft gefordert. Sie kann Gegendemonstrationen veranstalten, was in Österreich und Deutschland relativ gut gegen Rechtsextremismus funktioniert. Es kann keinen sterilen öffentlichen Raum geben. Demokratien sind dreckig und erfordern ein dickes Fell. Debatten müssen stattfinden. In der Diskussion um Homosexualität hat das in Großbritannien wunderbar funktioniert: Die Zivilgesellschaft hat gesagt, dass homophobe Ansichten falsch sind, und dann erst ist der Gesetzgeber nachgezogen.
STANDARD: Sollten noch mehr institutionalisierte politische Prozesse ins Netz verlegt werden, wie Volksanstimmungen oder Volksbefragungen?
Schöllhammer: Das technische Potenzial wäre da. In Island durfte die Bevölkerung sogar bei der gesamten Verfassung mitarbeiten. Die Frage ist, ob man das will oder ob eine gewisse Hürde zur Beteiligung nicht sogar gut ist. Wenn Abstimmungen nur noch ein Mausklick sind, verliert die demokratische Beteiligung an Wert. Auch populistische Bewegungen, die das Emotionale ansprechen, haben es leichter, wenn es weniger Barrieren gibt.
STANDARD: Inwieweit fördern das Internet und neue Medien politische Bildung?
Schöllhammer: Information ist im Netz leichter zugänglich, wird aber kaum eingeholt. Vielen Leuten genügt das Wissen um die Möglichkeit, nachschauen zu können. Ohne die Vergangenheit verklären zu wollen, bin ich mir nicht sicher, ob die Generation der Zeitungsleser nicht besser informiert war als die heutige. In Bezug auf das Internet war ein überbordender Optimismus da. Studien zeigen aber Verschlechterungen beim Lesen und Schreiben.
STANDARD: Was bringen dann überhaupt Online-Portale, auf denen Verwaltungsdaten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden?
Schöllhammer: Sie ermöglichen eine neue, spannende Art der Bürgerbeteiligung. Es wird sich nicht jeder Österreicher Finanzamtdaten herunterladen. Aber für Universitäten und Thinktanks ist das interessant, weil sie mit den Daten arbeiten können.
STANDARD: In skandinavischen Ländern gibt es diese Portale schon länger. Wie funktioniert das dort?
Schöllhammer: Dort war es eine ganz bewusste Entscheidung für mehr Transparenz. Der Hintergedanke ist, wenn der Staat transparenter wird, wird er auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern legitimer. Bürger werden damit aufgefordert, sich zu beteiligen und Reformvorschläge einzubringen. So können Datenmengen positiv genutzt werden. Technologien sind an sich neutral. Es geht letztendlich darum, wie Staaten oder Institutionen sie nutzen. Etablierte Demokratien wie die skandinavischen Länder nutzen sie für Transparenz und Bürgereinbindung. China für Kontrolle und Überwachung.
STANDARD: Was ist für einen demokratischen Staat wie Österreich die beste Kombination aus online und "real life"?
Schöllhammer: Ich glaube, man muss wieder mehr auf traditionelle Instrumente zurückgreifen und in den Schulen Kurse wie politische Bildung und Ethikunterricht anbieten. Dann werden die Menschen beginnen, politische Information im Netz sinnvoll zu nutzen. Wenn jeder Erstklässler ein iPad zur Verfügung gestellt bekommt, ist das löblich, aber kein Ersatz für traditionelle Bildung. Wichtig ist auch der Kontakt mit anderen Menschen. Wir brauchen wieder mehr Stammtische und Diskussionsgemeinschaften. Es ist beispielsweise erwiesen, dass die Partizipation in Vereinen positive Effekte hat. Dort trifft man auf gegensätzliche Meinungen, denen man im Internet ausweichen kann, und lernt Kompromissbereitschaft. Dass die Technik die Menschen zusammenbringt, war ein Irrglaube. Das Internet kann kein Ersatz für die Erziehung zum zivilen Miteinander sein. (Lisa Breit, Oona Kroisleitner, DER STANDARD, 11.1.2015)
Ralph Schöllhammer (32) studierte Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuni Wien und promovierte in Politikwissenschaft an der Universität von Kentucky. Derzeit ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für E-Governance an der Donau-Uni Krems und als Lehrbeauftragter an der Webster-Uni Wien tätig. Seine Schwerpunkte sind Politische Theorie und Politische Psychologie.
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