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Wahl der Qual

Wenn konservative Therapien ausgereizt sind und ein Gelenkersatz zum Thema wird, stehen viele Patienten vor einer schweren Entscheidung. Der Schmerz ist groß, genauso groß ist oft die Angst vor den Risiken einer Operation. Doch Ärzte können ihren Patienten Mut machen: Unter den richtigen Voraussetzungen ist die Entscheidung für eine Prothese meist eine Entscheidung für Lebensqualität.

Auf der Vorderseite des Ausweises walken dem Betrachter drei lachende Senioren entgegen. Martina Zuber* entfaltet das schwarz-weiße Dokument, das sie eben aus ihrer Handtasche gezogen hat. „Size, type, cone, ball head“, liest die 62-Jährige vor. „Hier in meinem Implantatpass steht genau drin, was in mir verbaut ist.“ Allerlei Abkürzungen und Zahlen reihen sich an englische Begriffe. Daneben geben Strichcodes, Symbole und Unterschriften dem Laien Rätsel auf. Ulrike Maurer* beugt sich vor und mustert das Papier. „Das ist ja interessant. Darf ich mal sehen, was da alles drinsteht ist?“ „Na klar“, sagt Martina Zuber und reicht ihr den Pass. Sie hat bereits hinter sich, was ihrer Bekannten noch bevorsteht: eine Hüft-OP und ein Gelenkersatz.

Rund 448.000 künstliche Knie- und Hüftgelenke, sogenannte Endoprothesen, setzten Ärzte im Jahr 2017 in Deutschland ein, schätzt das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen. Hinzu kommen circa 25.000 Schulterprothesen. Oft gehen der Operation beschwerliche Jahre voraus. Jahre, in denen die Schmerzen den Alltag und die Freizeit mehr und mehr einschränken. Jahre, in denen der Radius immer kleiner wird. Das Wandern: aufgegeben. Der Weg zum Supermarkt: mühsam. Ein ruhiger Schlaf: undenkbar. Haben Patienten alle herkömmlichen Therapien ausgeschöpft, bleibt ihnen als letzte Option meist nur noch ein künstliches Gelenk. Doch genauso so groß wie der Schmerz, ist bei vielen Betroffenen auch die Angst vor den Risiken einer Operation. In diesem Dilemma können Ärzte ihren Patienten Mut machen: Zum richtigen Zeitpunkt, in einer qualifizierten Klinik und mit einer Portion Eigeninitiative ist die Entscheidung für eine Prothese fast immer eine Entscheidung für mehr Lebensqualität.

Skifahren? Besser nicht.

Wie bei Martina Zuber. Beim Joggen machte sich ihre Hüfte vor sechs Jahren zum ersten Mal bemerkbar. Nach mehreren Röntgenaufnahmen beim Arzt steht fest: Beide Hüftgelenke sind verschlissen und beschädigt. Eine ganze Weile arrangiert sich die Pädagogin mit dem Schmerz: „Erst bin ich einfach gewalkt statt gejoggt. Dann habe ich die Strecken verkürzt. Und irgendwann habe ich es ganz bleiben lassen.“ Als sie beginnt, für Museumsführungen einen Hocker einzupacken, Konzerte mit Stehplätzen abzusagen und sich bei Städtetouren genau zu überlegen, wo die nächste Parkbank warten könnte, wird ihr klar, dass sich etwas ändern muss. „Ganz schlimm wurde es, als der Schmerz auch in Ruhe kam und ich ohne Schmerzmittel nicht mehr schlafen konnte.“ Heute, mit zwei neuen Hüftgelenken, sieht ihr Leben deutlich anders aus. „Mein Orthopäde meinte, ich dürfte sogar wieder Skifahren. Aber ich glaube, das ist keine gute Idee. Das konnte ich nämlich auch vorher nicht“, erzählt Martina Zuber und lacht. Sie genießt ihre neue Bewegungsfreiheit stattdessen bei Radausflügen, Wandertouren und Walkingrunden.

Von solchen Unternehmungen ist Ulrike Maurer gerade weit entfernt. Mit Zuber verbindet sie nicht nur der Wohnort und die Damengymnastik-Gruppe, sondern auch die Erfahrung von extrem schmerzenden Hüften. Als die ersten Beschwerden auftauchten, nahm sie die Tipps ihres Arztes ernst, bewegte sich viel und verlor einige Kilos. „Drei Jahre lang ging es mir damit wirklich gut“, sagt sie. „Doch von einem Tag auf den anderen kamen die Schmerzen zurück – permanent und stärker wie je zuvor. Seit über drei Monaten kriege ich sie trotz starker Schmerzmittel überhaupt nicht mehr in den Griff.“ Ulrike Maurer muss sich vom Tanzkurs abmelden, ihren Chor verlassen, die Gymnastikstunden absagen und das Walken aufgeben. Und auch kleine, alltägliche Bewegungen fallen ihr schwer: „Autofahren, Strümpfe anziehen, laufen, schlafen – nichts geht mehr gut.“

Beim Orthopäden erfährt sie den Grund für ihre Beschwerden: Arthrose. Rund ein Viertel aller Frauen und ein Sechstel aller Männer erhält diese Diagnose im Laufe ihres Lebens. Die Deutsche Arthrose-Hilfe schätzt, dass fast fünf Millionen Menschen hierzulande unter der häufigsten aller Gelenkerkrankungen leiden. Genau wie etliche Patienten mit rheumatoider Arthritis, Knochenfrakturen, Fehlstellungen oder Gelenkdeformationen, stehen viel von ihnen irgendwann vor der Wahl: Weitertherapieren oder operieren? Abwarten oder handeln?

Der Leidensdruck entscheidet

„Für eine Endoprothese gibt es keinen objektiv richtigen Zeitpunkt, keinen allgemeingültigen Schmerz- oder Zerstörungsgrad“, sagt Prof. Thorsten Gehrke, ärztlicher Direktor der Helios ENDO-Klinik Hamburg. Natürlich müssten gewisse Voraussetzungen erfüllt sein: Veränderungen, die auf dem Röntgenbild oder der MRT-Aufnahme zu sehen sind, strukturelle Schäden an den Knorpeln, ein gelenkbezogener Schmerz, eingeschränkte Mobilität. „Der wichtigste Punkt aber ist: die reduzierte Lebensqualität des Patienten.“ Der richtige Zeitpunkt sei deshalb vor allem ein subjektiver: „Er ist gekommen, wenn der Leidensdruck zu groß wird und Patienten meinen, dass es so nicht mehr weitergeht.“

Ist dieser Punkt erreicht, ist die erste Anlaufstelle oft eine Endoprothetik-Sprechstunde – wie die von Prof. Alexander Beck. Am Endoprothetik-Zentrum des Juliusspitals Würzburg berät der Chefarzt Menschen, für die ein künstliches Gelenk infrage kommt. Sein Credo: „Wir operieren keine Röntgenbilder, sondern Patienten.“ Deshalb müsse man gemeinsam entscheiden, ob und wann ein Eingriff sinnvoll sei. Doch obwohl das individuelle Empfinden dabei ein wichtiger Faktor ist, gibt es nach Beck auch ein „zu früh“ und ein „zu spät“ für die Operation. „Zu früh ist es dann, wenn man durch nicht-operative Maßnahmen noch so weit zurechtkommt, dass die Lebensqualität nicht besonders stark beeinträchtigt und die Mobilität noch gewährleistet ist“, sagt Beck. Zu spät kommt die Operation dann, wenn die Arthrose so weit fortgeschritten ist, dass bereits größere Schäden entstanden sind. „Dann ist der Einbau eines einfachen Gelenkes nicht mehr möglich und wir müssen schon beim Ersteingriff komplexere Implantate mit einer kürzeren Lebensdauer verwenden.“

Kommt der jedoch Eingriff rechtzeitig, sorgen hochwertige Materialien und neue Methoden dafür, dass das Alter der Patienten heute eine geringere Rolle spielt. Sehr alte, aber auch immer mehr junge Menschen landen auf dem OP-Tisch. „Man kann mittlerweile guten Gewissens davon ausgehen, dass die Endoprothese 20 bis 25 Jahre mitspielt“, sagt Thorsten Gehrke. Trotzdem sorgen sich Patienten diesseits der 70 oft, dass sie ihr künstliches Gelenk überleben. Denn müssen Ärzte das Implantat in einem sogenannten Revisionseingriff auswechseln, sind die Operationen meist anspruchsvoller als beim ersten Mal. „Manchmal müssen nur Einzelteile ausgetauscht werden, manchmal stehen komplizierte Eingriffe an“, so Gehrke. „In spezialisierten Klinken ist aber beides möglich und machbar.“ Deshalb müsse heute niemand mehr die Zähne zusammenbeißen und vor der Erstoperation um jedes Lebensjahr ringen. „Diese Zeiten sind vorbei. Jeder Tag mit Schmerzen ist ein verlorener Tag.“

Risiken und Ängste

Martina Zuber setzte sich dennoch zum Ziel, ihren 60. Geburtstag ohne Implantat zu feiern. Aber nicht nur mit Blick auf die Lebenserwartung der Prothesen schreckte sie zwei Jahre lang vor dem Eingriff zurück. „Ich wollte keine OP, obwohl klar war: Langfristig helfen mir nur künstliche Gelenke.“ Weil eine Fußoperation ihrer Tochter gründlich schief gelaufen war, fürchtete sie sich vor den Risiken: „Bakterien, Nekrose, Blutungen, Thrombosen, Embolien – ich hatte Angst vor allem.“ Nicht ganz ohne Grund. So kommt es laut dem „Weißbuch Gelenkersatz“ des IGES Instituts bei fünf Prozent aller endoprothetischen Eingriffe zu Komplikationen. Entzündungen und Vereiterungen, führt das Institut auf, Blutgerinnsel, Nervenschäden, Beinlängenunterschiede, ebenso Auskugelungen, Knochenbrüche, Lockerungen der Prothese, Materialverschleiß und Allergien. Um diese Folgen zu verhindern, untersuchen Ärzte ihre Patienten im Vorfeld gründlich: „Überprüft wird der Zustand des Gelenks, aber auch die Infektionsgefahr und die Operationsfähigkeit des Patienten“, sagt Thorsten Gehrke. Röntgenaufnahmen, MRT-Bilder, Blutproben, Untersuchungen des Herzens oder der Lunge helfen den Orthopäden dabei, die Gefahrenquellen ausfindig zu machen – und auszumerzen.

Ulrike Maurer beunruhigen die Risiken ohnehin nicht. Sie hat keine große Angst vor der Operation. Im Gegenteil: „Ich sehne sie richtig herbei, ich kann nicht mehr warten.“ Der immerwährende Schmerz zermürbt sie, der erzwungene Stillstand lähmt. „Mir reicht es nicht, auf dem Sofa zu sitzen wie eine 80-Jährige. Ich bin 52 und möchte noch länger aktiv sein. Ich will laufen, tanzen, wieder am Leben teilhaben.“ Dass sie mit dieser Hoffnung nicht übertreibt, deutet eine Befragung der Barmer GEK an. 92 Prozent der Hüft- und 82 Prozent der Knie-Implantierten waren neun Monate nach dem Eingriff mit dem Ergebnis zufrieden. „Viele Patienten sind erstaunt, wie gering die Schmerzen hinterher sind und wie schnell sie sich erholen“, sagt der Spezialist für Schulterprothesen, Prof. Ulrich Brunner, vom Krankenhaus Agatharied. „Es ist unglaublich, was wir mit neuen Verfahren heute erreichen können.“

Erwartungen aussprechen

Auch die Patienten von Prof. Thorsten Gehrke sind häufig positiv überrascht. Trotzdem warnt der Chefarzt davor, die Erwartungen zu hoch zu schrauben. „Maßstab ist der gesunde Zustand“, sagt Gehrke. „Das Gelenk muss das leisten können, was es vorher ohne Schmerzen auch leisten konnte. Ein Sportler möchte zu Recht wieder sportlich aktiv werden. Ein Sportmuffel muss im Alltag beschwerdefrei sein, nicht beim Bergwandern.“ Patienten sollten ihre Vorstellungen im Vorfeld klar kommunizieren und mit dem Arzt besprechen, ob sie angemessen sind. Nur so könnten Betroffene die Entscheidung für oder gegen den Eingriff unter den richtigen Voraussetzungen treffen.

Dass realistische Erwartungen tatsächlich erfüllt werden, hängt nicht zuletzt am operierenden Arzt. Dessen Erfahrung ist die entscheidende Größe, da sind sich alle Experten einig. Auch wenn die meisten Gelenkersatz-Operationen mittlerweile Routine sind, sollten Patienten deshalb die Klinik sorgsam auswählen. Wer sich im Bekanntenkreis und bei seinem Orthopäden umhört, kriegt erste Empfehlungen. In einem zweiten Schritt lohnt es sich, einen Blick auf Qualitätsdaten, Eingriffszahlen und Zertifikate der Kliniken zu werfen. Aber auch das eigene Gefühl darf eine Rolle spielen: Wie viel Zeit hat mein Gesprächspartner in der Sprechstunde für mich? Geht er auf meine Bedenken ein? Fühle ich mich in dieser Klinik in guten Händen?

Doch selbst in die besten Hände können Betroffene nicht die ganze Verantwortung legen, meint Thorsten Gehrke: „Zwar hängen 50 Prozent des Erfolges am Operateur, die anderen 50 Prozent aber am Patienten.“ Schon vor dem Eingriff können sie einiges dafür tun, um gute Voraussetzungen zu schaffen. „Je gesünder und besser vorbereitet ein Patient ist, desto weniger Nebenwirkungen sind zu erwarten“, weiß Alexander Beck. Er rät zu den Klassikern der Prävention: Gewichtsreduktion, gesunde Ernährung, Nikotinverzicht – und Bewegung, so gut es eben geht. Sie fördert die Durchblutung und die Nährstoffversorgung im Gelenk, stärkt die Muskulatur und erleichtert die spätere Rehabilitation.

Körper und Psyche brauchen Zeit

Ist das Implantat eingesetzt, sollten Patienten schnell wieder mit alltäglichen Bewegungen beginnen – ohne sich zu überfordern. Das gilt auch für eine Reha im direkten Anschluss: „Die physiotherapeutischen Maßnahmen passen dort oft nicht mit den chirurgischen Voraussetzungen zusammen“, weiß Prof. Ulrich Brunner. „Krankengymnastik ist in vielen Fällen erst zu einem späteren Zeitpunkt sinnvoll und sollte eher zurückhaltend einsetzen.“ Wenn das Gelenk nach einigen Monaten gut eingewachsen ist, empfiehlt Brunner vor allem Sportarten mit gleichmäßigen, fließenden Bewegung (siehe Infobox). „Schläge und Erschütterungen sind dagegen sehr schlecht“, sagt der Schulterspezialist. „Denn eine Prothese ist ein Kunstprodukt. Sie unterliegt einem Verschleiß, der durch falsche Belastung beschleunigt wird.“ Wer zu schnell zu viel will, kann sein neues Körperteil dauerhaft schädigen. In die Verantwortung der Patienten fällt deshalb auch eines: Geduld. „Die vollständige Rehabilitation zieht sich etwa zwei Jahre hin“, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Endoprothetik. „So lange verbessert sich die Funktion von Gelenk und Muskelapparat.“

Dass ihr Körper Zeit braucht, um sich an die neue Situation zu gewöhnen, hat Martina Zuber bald gespürt. „Der typische Hüftschmerz war zwar sofort weg und kam auch nie wieder. Trotzdem habe ich danach relativ lange gebraucht, bis ich halbwegs fit war und die Muskulatur wieder mitgespielt hat. Ich habe mich ja über Jahre hinweg geschont.“ Und auch die Psyche hatte ein langsameres Tempo als gedacht: „Ich musste mich erst daran gewöhnen, gesund zu sein und mich belasten zu können. Beim ersten Mal Radfahren war ich total ängstlich und noch heute habe ich immer Schmerztabletten dabei, auch wenn ich sie gar nicht mehr brauche.“ Nach jeder Gymnastikstunde kann sich Martina Zuber heute freuen, dass wieder so viel möglich ist. Dass sie bei den Übungen manchmal sogar vergisst, dass da ja mal was mit ihren Hüften war.

„Wenn du gewusst hättest, wie es dir nach der Operation gehen würde: Hättest du den Eingriff dann früher machen lassen?“, fragt Ulrike Maurer und schiebt den Implantatpass zurück über den Tisch. „Nein“, sagt Martina Zuber. „Ich habe diese Zeit gebraucht, um eine Entscheidung zu treffen. Ich würde wieder lange warten und alles genauso machen.“