“Mehr kann ich nicht tun.” Soeben kommt Dr. Avi aus dem Operationssaal. Mit dem weißen Kittel, seiner unauffälligen Brille und dem schlohweißen Haar sieht er aus, wie man sich einen Arzt vorstellt. Doch Maurizio Avi ist kein gewöhnlicher Arzt.
Der Gynäkologe hat gerade seinen 63. Geburtstag gefeiert. Seit 1981 arbeitet er im Krankenhaus von Bozen. Dort ist er der, der die Abtreibungen macht.
Gewissen gegen Gesetz
Italienische Ärzte können aus Gewissensgründen Abtreibungen verweigern. Dr. Avi gehört nicht zu den “obiettori di coscienza”. Anders als jene 70 Prozent, die laut Gesundheitsministerium Abtreibungs-Verweigerer sind. Die Gründe dafür – vielfältig. Religiöse und moralische Überzeugungen. Angst, keine Karriere zu machen.
Der Einfluss der katholischen Kirche und christlich geprägter Parteien, erklärt Avi, sei in Italien nach wie vor groß, reicht offenbar bis ins Sanitätswesen hinein. “Hier sind Abtreibungen karrierehinderlich.”
In seiner Heimat haben sogar 84,4 Prozent der Ärzte nicht das Gewissen, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. 2014 waren es 92,9 Prozent Das sind die offiziellen Zahlen für Südtirol. Avi spricht von 99 Prozent. Nicht notwendigerweise führen Ärzte, die sich bei Vertragsunterzeichnung nicht zum “obiettore” erklären, Schwangerschaftsabbrüche durch.
Auf dem Papier gilt das Recht auf Abtreibung in Italien seit 1978. Die Realität ist oft ernüchternd. Wenige Kilometer von Dr. Avis Krankenhaus entfernt duldet ein Gynäkologie-Primar keine Abtreibungen.
Kopfschütteln. Auf der Straße, in Parlamenten, vor Gericht, auf französischen und deutschen Magazin-Titelseiten: Der Kampf für Abtreibungsrechte lief über Jahrzehnte. In Italien wurde das Gesetz 194 geschrieben, in Deutschland Paragraph 218a ins Strafgesetzbuch eingeführt.
“Absurd” findet Avi, dass die Verweigerung aus Gewissensgründen heute vielerorts erlaubt ist. Für ihn geht es in erster Linie um Respekt, der Frau gegenüber: “Meine Patientinnen haben es ohnehin schwer, werden oft verurteilt, leiden.” Als Arzt sieht er sich verpflichtet, Hilfe in Not zu leisten. Vom Eid des Hippokrates und vom Gesetz 194.
Neue alte Herausforderungen
Drei Tage in der Woche widmet sich Dr. Avi Frauen, die abtreiben wollen und Hilfe suchen. Ein einsamer Job, für den er frühmorgens ins Krankenhaus kommt. Angestellt ist er dort nicht, hat aber eine Vereinbarung mit dem Sanitätsbetrieb. Er ist der einzige Arzt in Bozen und einer von nur zweien in der Provinz, die diese, wie er sagt, “unbequeme Arbeit” machen wollen.
Im Ambulatorium Nummer 20 führt er Beratungsgespräche und Voruntersuchungen durch, erledigt die bürokratische Arbeit. Die Abtreibungen finden im OP-Saal statt. Dort war Avi gerade.
Seit 13 Jahren unterstützt ihn eine Krankenschwester aus den Niederlanden. An diesem Morgen sitzt sie am Schreibtisch, nimmt Telefongespräche entgegen. Erst spricht sie italienisch, dann deutsch, dann englisch. Eine der Anruferinnen ist minderjährig, wie immer mehr Patientinnen. Häufiger kommen auch Schwangere, die als Bootsflüchtlinge in Italien gelandet sind. “Ich bin heilfroh um meine Mitarbeiterin”, lächelt Avi.
Am Rand
2016 gab es 563 Schwangerschaftsabbrüche in Südtirol. Einmal in der Woche werden die Eingriffe in Bozen durchgeführt. Höchstens acht Patientinnen kommen an einem Vormittag dran. Die Bilanz: 80 Prozent der jährlichen Abtreibungen im Land werden von Dr. Avi gemacht, etwa 400. “Es waren schon einmal mehr”, erinnert er sich. Die Abtreibungsrate ist italienweit seit Jahren rückläufig.
Was sich nicht geändert hat: Im Joballtag hat es Avi nicht immer leicht. Er ist als freiberuflicher Gynäkologe tätig. Andere Frauenärzte sähen es nicht gerne, wenn ihre Patientinnen in Avis Praxis wechselten. “Weil ich Abtreibungen mache.” Auch in den Krankenhausgängen scheint es, als ob der Arzt und seine Mitarbeiterin gemieden würden. “Feindseligkeit gibt es keine. Einige Kollegen sagen mir aber offen, ich stünde mir selbst im Weg”, sagt Avi und nimmt einen Schluck von seinem Macchiato. Er hat jetzt Pause.
Keine Alternative
“Ja, Abtreibungen sind unangenehm, zeitraubend und komplex. Aber im Leben muss man eben Entscheidungen treffen und sich Regeln geben.” An dieser Überzeugung hält Avi fest. Seine Regeln: “Bei der Arbeit versuche ich, persönliche Befindlichkeiten, politische und religiöse Ansichten beiseite zu schieben und bestmöglich zu helfen. Mehr kann ich nicht tun.”
Kurz hält Avi inne als er von “vielen belastenden Momenten” spricht. Die gibt es immer wieder. “Wichtig ist, sie zu überwinden.” Er versucht es mit Nordic Walking, früher malte er viel, fotografierte, spielte Gitarre.
Bis zur Pensionierung will Maurizio Avi unbequem bleiben. Wie 1972, als er den Wehrdienst nicht antrat. Den habe er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren können: “Die einzige Verweigerung, zu der ich stehen kann.”